Ein Regenschirm furr diesen Tag
mit sich herum. Wieder hoffe ich, ähnlich wie bei Susanne, nicht entdeckt zu werden. Ich ärgere mich immer noch über die längst verschwundene Rollstuhlfahrerin, ohne deren Anblick ich ebenfalls nicht mehr hier wäre. Himmelsbach ist so stark mit sich beschäftigt, daß er die Vorgänge in seiner Umgebung nicht bemerkt. Seine Schuhe sind hart und grau, wahrscheinlich putzt er sie nicht mehr. Er geht in der Parfümabteilung umher und sprüht sich aus verschiedenen Probierflakons kleine Duftproben zuerst auf die Innenseiten seiner Hände und Armgelenke und dann auf die Arme. Jedesmal macht es Pfft!, wenn die Düsen Parfüm ausstäuben. Ach Gott, denke ich, so einer ist Himmelsbach geworden. Er parfümiert sich kostenlos in Kaufhäusern und kommt sich wahrscheinlich noch raffiniert dabei vor. Ich sehe, es ist ein ältliches Gespenst aus ihm geworden, ein Pfft-Mann, der niemals seine Schulden bezahlen wird. Trotzdem gelingt es mir, meinem Blick die Schärfe zu nehmen, jedenfalls sekundenweise. Wenn Himmelsbach mich jetzt anschaut, muß er mich für milde halten. Dann könnten wir trotz des verregneten Zimmers und trotz der Schulden vielleicht miteinander reden und über die peinlichen Manöver des Schicksals triumphieren. Aber diese Augenblicke treten nicht ein. Himmelsbach kann nicht aufhören, immer wieder neue Flakons in die Hand zu nehmen und jetzt sogar sein Hemd einzuduften. Er bemerkt nicht, daß die Verkäuferinnen schon über ihn kichern. Ich müßte einschreiten, das heißt ihn schützen, aber ich kann nicht. Denn ich verspotte ihn in meinem Inneren ebenfalls, ich merke, wie froh ich bin, daß ich ihn aus dem Blick verliere, und dabei vor mich hin murmle: Pfft, pfft, pfft.
2
Nach diesen Erlebnissen sehe ich davon ab, mir heute ein Paar Socken zu kaufen. Die ungeplante Bezahlung der Rasierklingen war schon aufregend genug. Es eilt nicht mit den Socken, ich brauche sie heute nicht und morgen nicht und übermorgen nicht sofort. Außerdem habe ich dann einen Grund, meine Wohnung erneut zu verlassen und in die Stadt zu gehen. Denn außer meiner Strategie, mich im Gehen nicht an meine Kindheit zu erinnern, gibt es einen zweiten, weit stärkeren Grund, meine Wohnung so oft wie möglich, am besten stundenlang, zu meiden. Über diesen Grund kann ich freilich im Augenblick nicht sprechen, nicht nachdenken und nicht nachsinnen. Es hängt sicher mit diesen Unaussprechlichkeiten zusammen, daß mir jetzt, kurz nach dem Verlassen des Kaufhauses, eine alte Sterbephantasie wieder einfällt, die ich für vergessen geglaubt hatte. Vor ungefähr fünfzehn Jahren stellte ich mir einmal vor, daß links und rechts meines Sterbebettes je eine halbnackte Frau sitzen sollte. Ihre Stühle sollten so nah an mein Sterbelager herangerückt sein, daß es mir leichtfiele, mit den Händen die entblößten Brüste der Frauen zu berühren. Ich glaubte damals, mit dieser körperlichen Besänftigung würde mir die Zumutung des Sterbens besser bekommen. Fast jeden Tag habe ich mir überlegt, welche von den mir bekannten Frauen ich vorsorglich fragen sollte, ob sie, wenn es soweit ist, zu diesem Sterbedienst bereit wären. Ich erinnere mich, daß ich es damals am besten fand, zunächst Margot und Elisabeth zu fragen. Beiden Frauen war es, wie soll ich sagen, schon zu Liebeszeiten möglich, mich auf vollkommen untätige Weise zu besänftigen, und zwar nur dadurch, daß ich sie anschaute und gelegentlich berührte. Ich stehe an einer Straßenbahn-Haltestelle und warte auf die Linie 11, mit der ich (vermutlich) dann doch nicht nach Hause fahren werde. Rings um mich warten junge und ältere Frauen und ein paar Männer. Die Frauen tragen leichte Blusen, die im Wind flattern beziehungsweise wedeln. Mir fällt auf, daß die Frauen heute nicht mehr wie früher den Blusenausschnitt vorne tragen, unterhalb des Halses, sondern seitlich, unterhalb der Achseln. Seitlich angeschaute Brüste wirken auf mich viel mütterlicher als direkt von vorne angeschaute. Vermutlich ist es so, daß ich mich bei seitlich angeschauten Brüsten viel besser damit abfinde, daß sich Brüste immer weiter aus meinem Leben entfernen und eines Tages ganz verschwinden. Ich überlege, warum ich eigentlich von der Idee der Sterbebusenbegleitung, nein, der Busensterbebegleitung, nein, des Busenberührungssterbens wieder abgekommen bin. Je länger mir die Erinnerung durch den Kopf zieht, desto stärker sympathisiere ich wieder mit ihr. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals auch Susanne
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