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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Brust eines Mädchens berührte. Ich habe damals lange nicht bemerkt, daß es sich dabei um einen Busen handelte. Ich saß immer nur hinter Susanne und umfaßte sie von hinten. Auch Susanne fiel nicht auf, daß meine beiden Hände bei jeder Abfahrt auf ihrer Brust lagen. Erst als Susanne dreizehn geworden war, schob sie plötzlich meine Hände beiseite und lachte dabei. Ich lachte ebenfalls, und erst durch dieses gemeinsame Lachen ging uns auf, daß es Brüste und Hände gab und ein neuartiges Erschrecken zwischen uns, das uns dann auseinandertrieb, jedenfalls für eine Weile.
    Susanne will bis heute mit mir über diese Einzelheiten sprechen. Sie nennt diese Einzelheiten unsere einzigartige Kindheit. Zum Beispiel findet sie es interessant, daß ich auf dem Schlitten immer hinter ihr saß. Wenn ich vorne gesessen hätte, hätte ich auch nicht ihren Busen berühren können. Nur der Platz hinter ihr gab mir dazu die Möglichkeit. Also hätte ich schon damals Grund gehabt, an dieser Sitzordnung unter allen Umständen festzuhalten. Ich kann hundertmal sagen, daß ich durch ihren Anorak, ihren Pullover, ihre Bluse und ihr Unterhemd hindurch nicht habe fühlen können, daß sich darunter ihr Busen befand, Susanne glaubt mir nicht recht. Dabei rede ich nicht mehr gerne über meine Kindheit. Das Umherschweifen in der Stadt geschieht oft nur deshalb, weil es mir während des Gehens leichter fällt, mich nicht zu erinnern. Ich möchte auch nicht erläutern müssen, warum ich mich nicht mehr gerne an die Kindheit erinnere, und schon gar nicht möchte ich andere Personen bitten, sie mögen aufhören, von meiner Kindheit zu erzählen. Ich möchte nicht, daß sich meine Kindheit immer mehr in eine Erzählung über meine Kindheit verwandelt, ich möchte sie als etwas aufbewahren, das hinter meinen Augen ausharrt, launisch, verworren, bissig. Susanne hingegen glaubt, daß durch das Sprechen über die doch einmalige Kindheit eine andere, zweite, neue Kindheit hervorgeht, was in meinen Augen ein grober Unfug ist. Wir stritten damals, zuerst in einem Lokal, dann auf der Straße, und ich überlegte zum ersten Mal, ob ich mir vielleicht ein kleines Schildchen an mein Revers heften soll. Darauf könnte stehen: BITTE KEINE GESPRÄCHE ÜBER IHRE ODER MEINE KINDHEIT. Oder auch, etwas schroffer: VERMEIDEN SIE BITTE DAS THEMA KINDHEIT. Natürlich würde ich mich vielerlei Gefahren und Mißverständnissen aussetzen, wenn ich mit einem solchen Schild herumliefe. Susanne würde das Schild nicht begreifen und ausrufen, jetzt bist du endgültig übergeschnappt. Das hat sie schon öfter gesagt, sie sagt es eigentlich immer, wenn sie etwas nicht sofort begreift oder nicht hinnehmen möchte. Ich schaue hinauf zum blauen Himmel und entdecke ein zweites Segelflugzeug. Ein Segelflugzeug am Himmel ist wunderbar, zwei Segelflugzeuge sind schon eine öffentliche Bedürfnisbefriedigung. Jetzt habe ich doch wieder die Gesellschaft kritisiert! Immer will ich mich zurückhalten, aber dann verliere ich die Beherrschung und falle zurück. Susanne ist offenbar nicht mehr in der Nähe. Sonst hätte sie sich längst neben mich auf den Brunnenrand gesetzt, um über ihre oder meine Kindheit zu sprechen oder auch über Sartres Theaterstück ›Geschlossene Gesellschaft‹, in dem sie einmal die Rolle der Estelle gespielt hat, allerdings vor etwa siebenundzwanzig Jahren.
    Eine angenehme Müdigkeit zieht in mich hinein oder durch mich hindurch, ich weiß es nicht. Wenn es mir möglich wäre, würde ich mich hier niederlegen und eine halbe Stunde schlafen, dicht neben dem Glitzern des Wassers. Aber ich brauche, um zu schlafen, einen geschlossenen Raum um mich. Ich erhebe mich und gehe schräg über den kleinen Platz. Es ist Mittag, die Kaufhäuser sind jetzt fast angenehm, weil halb leer, leise und nichtssagend. Wenn ich mich recht erinnere, werden Herrensocken in der zweiten Etage verkauft. Ich durchstreife das Erdgeschoß und suche die Rolltreppe. Links von mir stehen auf langen Regalen Rasierseifen, Haarwasser, Rasierschaum in Tuben, Herrenparfüms, Wattestäbchen, Hautcremes, Babyartikel. Ich mache einen kleinen Umweg und biege in den Gang mit Haushaltsreinigern, Insektensprays und Wischlappen ein. Ich weiß nicht, warum ich etwa zehn Sekunden später ein Päckchen mit Rasierklingen in meiner Jackentasche verschwinden lasse. Vermutlich ist es wieder die Verstimmung darüber, daß ich ohne innere Genehmigung lebe. Gerade hier, in diesem Kaufhaus, möchte ich gefragt

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