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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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gefragt habe oder nicht. Ich sammle jetzt doch Gründe dafür, warum es für mich sinnvoller ist, auf die Straßenbahn zu verzichten. Ich bin so stark in die vergangenen und kommenden Fragen meines Lebens verstrickt, daß es ganz töricht erscheint, mich mit diesen Fragen in die Enge einer Straßenbahn zu begeben. In der Straßenbahn kann ich nichts tun außer Straßenbahn fahren. Nein, ich muß sogar aufpassen, daß ich nicht mit einem Rentner zusammenstoße oder über einer sitzenden Frau zusammensinke. Da kommt die Linie 11, die Straßenbahn-Türen öffnen sich, die Frauen greifen nach ihren Einkaufstaschen. Ich schaue dabei zu, wie all diese Menschen, die für Eroberungen ganz unbegabt sind, in die Straßenbahn stürzen und jetzt doch einen Sitzplatz erobern wollen. Ich bleibe draußen stehen, die Straßenbahn fährt wieder an, ich werde die vier oder fünf Stationen zu Fuß zurücklegen. Rechter Hand liegt das große Autohaus Schmoller & Co. Jeden Freitag um die Mittagszeit werden die großen Schau- und Verkaufsräume des Autohauses gereinigt. Ein junger Mann und eine junge Frau, vermutlich ein Ehepaar, ziehen große, eimerförmige Staubsauger hinter sich her. Der Lärm der beiden Staubsauger dringt bis auf die Straße hinaus. Ich bleibe vor einem Schaufenster stehen und tue so, als würde ich mich für neue Autos interessieren. Tatsächlich schaue ich das Kind an, das die beiden Putzleute jedesmal mitbringen. Es ist ein etwa siebenjähriges Mädchen, das zwischen den Autos herumsteht und mit den Blicken nach seiner Mutter sucht, die ganz in der Nähe und doch unerreichbar ist. Eine staubsaugende Mutter ist so abwesend wie der Tod. Die Mutter stößt das Saugrohr mit der Bürste vorne dran immer wieder unter die Autos und vermeidet dabei, mit dem Kind zusammenzutreffen. Wahrscheinlich liebt die Mutter den Staubsauger, weil das Gerät ihr vortrefflich dabei hilft, unerreichbar zu sein. Die Mutter ist der Staubsauger und der Staubsauger ist die Mutter. Sie trifft auch mit ihrem Mann nicht zusammen, aber der Mann ist schon lange daran gewöhnt, daß sich beide in Staubsauger verwandelt haben. Ha! Ich bin ein ganz vorzüglicher Staubsaugerkritiker! Eben entdeckt das Mädchen, daß draußen ein Mann stehengeblieben ist und hereinschaut. Es kommt dicht an die Scheibe heran und schaut mich an. Ich müßte jetzt den Mut haben, das Putzpaar zu fragen, ob ich mit dem Kind eine halbe Stunde spazierengehen darf. Wahrscheinlich werden sie mir das Kind schenken, so begeistert werden sie sein. Leider muß ich über diesen Einfall kurz lachen, was das Mädchen mißversteht. Es lacht ebenfalls und legt dabei die Stirn gegen die Scheibe. Genau JETZT müßte ich den Autosalon betreten und das Kind mitnehmen. Statt dessen juckt mich in diesen Augenblicken mein Uhrarmband. Seit rund fünfundzwanzig Jahren bin ich daran gewöhnt, eine Uhr am Arm zu tragen. Das heißt, in Wahrheit bin ich nicht daran gewöhnt. Ich löse das Armband und lasse die Uhr in der linken Jackentasche verschwinden. Das Mädchen erkennt sofort, das Verschwinden der Uhr war das Zeichen, daß nichts geschehen wird. Es löst sich von der Scheibe und sucht wieder die Mutter, die gerade zwischen zwei riesigen Geländewagen saugt. Doch da schlängelt sich der Gummischlauch des Staubsaugers hinter einem Kühler hervor. Dankbar erkennt das Mädchen das Zucken des Gummischlauchs und fühlt sich wieder daheim.
    Mir hilft der Anblick eines kleinen Zoogeschäfts, das nur eine Haltestelle entfernt liegt. Das heißt, es ist der Besitzer des Zoogeschäfts, ein Mann zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren, der wie üblich auf der Treppe seines Ladens sitzt und einen Heftchenroman liest. Dabei müßte er dringend die Vogelkäfige und Terrarien reinigen. Und die Schaufensterscheibe müßte geputzt werden, und zwar heute noch. Aber dann würden die Leute erst richtig erkennen können, wie heruntergekommen der Zooladen ist. Ich bleibe vor der schmutzigen Scheibe stehen und versuche, in den Laden zu schauen. Es ist als Provokation gemeint, aber es ist nur lächerlich. Durch die offene Tür höre ich wieder die kleinen Abfluggeräusche der Vögel, das dichte kompakte Aufstieben von winzigen Federkörpern. Plötzlich habe ich das Gefühl, es wird sich rächen, daß ich das Nachhausegehen heute so hinausziehe. Ich werde jetzt rasch und zielstrebig meine Wohnung aufsuchen. Heute ist Freitag, und freitags hängt eine ältere Frau die frisch gewaschenen Arbeiterhemden ihres Mannes

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