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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Bein.
    »Also doch ein Ja?«
    »Nein, ein Nein!«
    Er grinste zu ihr hinauf. »Ich mach doch nur Spaß«, sagte er. »Ich würd ja nicht mal mit dir gehen, wenn du Maria Magdalena persönlich wärst.« Er drückte die Kippe auf einem Stein aus, noch ehe er sie zu Ende geraucht hatte.
    »Dann mach’s gut«, sagte Shell.
    »Mach’s guuhut, Shellie«, sang er. Und dann fing er wieder an:
Shell stinkt wie …
    Er hielt inne. Zog einen Schmollmund, zuckte mit den Schultern und warf den Zigarettenstummel fort. »Hey, geh nicht, Shell. Nur einen Kuss«, bettelte er. »Komm schon. Einen Kuss und dann vertragen wir uns wieder. Ich hab’s nicht so gemeint.«
    Ein Kuss konnte ja nicht so schlimm sein, dachte sie. Sie kniete sich neben ihn, spitzte die Lippen und schloss die Augen.
    Seine Hände umschlangen sie, eine packte ihren Nacken, die andere legte sich auf ihren Rücken. Seine Lippen näherten sich den ihren. Sie erwartete einen kleinen unbeholfenen Kuss, wie die, die sie Trix vorm Einschlafen immer gab – Jimmy war inzwischen zu groß dafür –, und als er nicht kam, drückte sie ihm selbst einen kleinen Kuss auf die Lippen. Doch seine beiden Hände umschlangen sie fester und seine Lippen pressten sich fest auf ihre und blieben dort, bis sich durch den Spalt plötzlich etwas in ihren Mund schlängelte. Sie zuckte zusammen. Doch er ließ nicht los, zwängte seine Zunge tiefer hinein und begann herumzufuhrwerken, als suche er nach einem Abszess oder einem kaputten Zahn. Seine Zungenspitze stieß gegen ihre und für einen kurzen Augenblick schoss ihr das Bild durch den Kopf, wie Gott Adam erschuf, indem er seine Fingerkuppe berührte. Ein Blitz fuhr ihr vom Hals durch den ganzen Körper bis in die Zehen. Declan ließ sie los.
    Sie schnellte zurück, fühlte sich wie Wackelpudding.
    »Nicht übel«, sagte Declan. »Für den Anfang nicht übel.«
    Shell versetzte ihm eine Ohrfeige und rannte davon.
    »Macht nichts«, rief er ihr hinterher. »Bridie ist ja auch noch da!«
Bridie, Bridie, Bridielein,
wenn man klingelt, lässt sie dich rein!
    sang er. Shell hatte keine Ahnung, was es bedeuten sollte. Als sie die Halle umrundet hatte, entdeckte sie Bridie selbst, die aus einiger Entfernung herüberstarrte, mit einem Gesicht wie saure Milch, dann wandte sie sich ab und stapfte zurück ins madengrüne Meer. Shell rannte in entgegengesetzter Richtung davon, zum Haupteingang des Schulgebäudes. Sie blieb nicht stehen, bis sie das sichere Klassenzimmer erreicht hatte.
    Nach und nach trudelten die anderen ein. Von Bridie war nichts zu sehen. Der Unterricht begann. In Shells Körper schoss der Blitz auf und ab, erlosch zeitweilig und kehrte dann wieder zurück, den ganzen Tag über.

Neun
    Am letzten Tag des Schuljahrs, einem Freitag, kam Pater Rose in die Schule, um in der Aula die Messe zu halten.
    Ein Lichtstrahl fiel durch das hoch gelegene Fenster herein. In Shells Vorstellung war es Jesus, der in dieser Gestalt direkt aus dem Himmel in das Tabernakel fuhr. Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund, sagten die Schüler im Chor.
    Sie ging nach vorn, um die Hostie zu empfangen. Pater Rose legte sie ihr auf die Zunge. In seinem cremefarbenen und grünen Ornat überragte er sie wie ein Turm.
    »Christi Leib«, sagte er.
    Shell hätte fast vergessen, amen zu sagen.
    Die dünne papierartige Oblate glitt leicht hinunter und explodierte in ihrer trüben Seele wie fünfzig Fruchtbonbons. Sie schloss die Augen, um den Anblick von Declan Ronan in seinem weißen Chorhemd auszublenden. Auch diesmal war er wieder der Messdiener. Aber Shell sah ihn die ganze Zeit vor sich, wie er mit ihr nackt durch Duggans Feld rannte.
    Als sie die Augen wieder aufschlug, war die Stille nach dem Abendmahl eingekehrt. Pater Rose wischte den Kelch mit einem weißen Tuch aus, das Declan ihm reichte. Er war so groß wie Pater Rose, ihre Schultern berührten sich fast. Sie hätten Apostelbrüder sein können, hätte Declan nur einen Funken Religiosität in sich gehabt. Seine Tätigkeit als Messdiener war nichts als List. Seine Eltern hatten ihn dazu gedrängt, als er sieben oder acht gewesen war und es nicht besser wusste. Inzwischen tat er es, wie er sagte, um sich in der Sakristei immer ein paar Schluck Messwein genehmigen zu können, wenn gerade niemand guckte.
    »Die Messe ist beendet, gehet hin in Frieden«, sagte Pater Rose.
    »Dank sei Gott dem Herrn«, erwiderten die

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