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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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den Altersunterschied.
Mein Alter = 15, fast 16
Pater Roses Alter = 25
Mein Alter + Jimmys Alter = Pater Roses Alter
    »Shell«, fragte Pater Rose. »Würdest du sagen, dass du glücklich bist?«
    Noch nie hatte irgendjemand sie danach gefragt. Shell wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie legte den Führerschein aufs Armaturenbrett und knüllte das Kaugummipapier zusammen.
    »Glücklich«, wiederholte sie.
    Der Regen ließ ein wenig nach. Sie warteten noch eine Weile.
    »Ich meine, mit deinem Leben«, begann Pater Rose wieder. »Zu Hause … Oder in der Schule?«
    »Schule ist langweilig«, sagte sie.
    Er dachte einen Moment darüber nach. »Ich habe mich in der Schule auch immer gelangweilt.«
    »Wirklich?«
    »Oft. Ganz besonders, wenn wir drei Stunden hintereinander Irisch hatten.«
    Shell schlug sich auf die Knie. »Ich hasse Irisch auch!«
    »Dann haben wir also was gemeinsam?«
    Sie nickte und hielt ihm ein Kaugummipapier hin. »Und Kaugummis, Pater. Die mag ich auch. Genau wie Sie.«
    »Ich bin süchtig danach«, sagte er. »Seit ich mit der Qualmerei aufgehört habe. Aber das bleibt unter uns, ja? Coolbar ist noch nicht bereit für einen Kaugummi kauenden Priester.«
    Shell kicherte. Inzwischen nieselte es nur noch. Pater Rose startete den Wagen und fuhr wieder auf die Straße. Der Nebel dünnte sich aus und der Hügel kam zum Vorschein.
    »Pater«, sagte Shell. »Das mit Ihrem Bruder tut mir leid.«
    Er nickte. »Er war ein Jahr älter als ich, Shell. Und er hätte einen besseren Priester abgegeben als ich, wenn er noch leben würde.«
    Als sie den Fuß des Hügels erreichten, brach über der kleinen Bucht die Sonne durch die Wolken. Die feuchte, schwere Luft begann zu schimmern und von der Spitze der Ziegeninsel zog langsam blauer Himmel herüber. Shell konnte kaum glauben, was als Nächstes geschah. Es war wie eine heilige Offenbarung, eine Antwort auf ein Gebet: Ein Regenbogen erschien, die eine Hälfte über dem Meer, die andere reichte ins Land. Seine Farben wurden intensiver, zu pulsierenden Strängen, die aussahen, als wollten sie versuchen sich gegenseitig zu verdrängen.
    »Mein Gott«, flüsterte Pater Rose und bremste den Wagen mitten auf der Straße abrupt ab. Es wurde immer heller. In der Bucht ritten weiße Schaumkronen um die Wette. Pater Roses Hände glitten vom Lenkrad, wie zum Zeichen seiner Ehrerbietung.
    »Sonnenschein in Irland, Shell«, sagte er. »Gibt es irgendwo auf der Welt etwas Schöneres?«

Zehn
    Pater Rose ließ Shell an der Grundschule aussteigen. Sie holte Trix und Jimmy ab und brachte sie nach Hause.
    Jimmy war ungewöhnlich schweigsam und ließ die von Shell aufgewärmte Dosensuppe stehen. Kalte Schweißperlen bedeckten seine Stirn.
    »Du musst ins Bett«, ordnete Shell an.
    »Nein«, widersprach er. »Ich geh aber nicht.«
    »Du musst. Auf der Stelle.«
    »Nein.«
    »Wenn ich sage, dass du ins Bett musst, hast du ins Bett zu gehen.«
    Er streckte ihr die Zunge raus und machte pfffft.
    Es juckte ihr in der rechten Hand, ihn zu schlagen, wie sie es früher schon getan hatte. Aber das Gesicht, mit dem er sie anblickte, wirkte so blass und klein, dass ihre Gereiztheit rasch wieder verflog.
    »Mach schon, Jimmy«, bat sie ihn. »Bitte. Wenn Mum noch leben würde, würde sie dich ins Bett schicken, das weißt du ganz genau.«
    Jimmys Gesicht brach auseinander wie eine zerschlagene Untertasse. »Du bist aber nicht meine Mum«, heulte er. »Ich will sie, nicht dich!«
    Shell hatte das schon öfter zu hören bekommen. Seufzend zog sie Jimmy am Kragen von seinem Stuhl. Er boxte sie auf die Arme, jedoch nicht so, dass es wehtat. Sie dirigierte ihn ins hintere Schlafzimmer, wo sie alle schliefen, in drei nebeneinanderstehenden schmalen Betten, dicht zusammengerückt, wie beim Militär. Sein Bett war das letzte. Oberhalb der Ablage am Kopfende schmückten seine schwarz-orangefarbenen Filzstift-Kritzeleien die Wand. Er hatte sie gemalt, als Mum im Sterben lag. Sie stellten nichts Konkretes dar, einfach nur dynamische Spiralen, die miteinander rangen.
    Als sie ihn ins Bett steckte, gab er allen Widerstand auf. Sie zog die Bettdecke hoch und strich ihm über die Wange. Er schob ihre Hand weg. Trix kam ebenfalls ans Bett und brachte ihm Nelly Quirke, den zerkauten Spielzeughund, der früher einmal Shell gehört hatte.
    »Na also«, sagte Shell. »Guter Junge.«
    Er nahm den Hund von Trix, wandte sich aber von Shell ab, rollte sich zusammen und starrte gegen die Wand. »Ich will

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