Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
gefahren bin und die nämliche Einbildung gehabt habe, so darf man mir Glauben schenken. Das Sonderbarste des Wahns aber war dieses: er befiel sofort die Leute, die eben erst von der Straße auf einen Sitz im Wagen hinaufgeklettert waren und an den Händen noch die Schwielen trugen, die vom Ziehen am Seil herrührten. Für diejenigen aber, deren Eltern und Großeltern bereits so glücklich gewesen waren, in der Kutsche zu fahren, war es zu einem unumstößlichen Glaubensartikel geworden, daß sie ganz anderen Wesens seien als die gemeine Masse der Ziehenden. Es liegt auf der Hand, daß eine derarti ge Einbildung jedes tatkräftige Mitgefühl für die Leiden der Masse in eine kühle, tatlose Sympathie verwandeln mußte. Ich berufe mich auf diese Tatsache als auf den einzigen mildernden Umstand zur Erklärung der Gleichgültigkeit, die in der Periode, über die ich schreibe, mein eigenes Verhalten zum Elend meiner Brüder kennzeichnete. Im Jahre 1887 erreichte ich mein dreißigstes Jahr. Ich war noch unverheiratet, jedoch mit Edith Bartlett verlobt. Sie fuhr, wie ich, auf dem Wagen. Mit anderen Worten – um den Vergleich fallen zu lassen, der hoffentlich seinen Zweck erfüllt und dem Leser eine allgemeine Vorstellung von den Gesellschaftsverhältnissen jener Epoche gegeben hat –, ihre Familie war reich. In jener Zeit, wo das Geld allein alles gewährte, was das Leben angenehm machte und für kulturwürdig galt, war es genug, daß ein Mädchen reich war, damit es Freier fand. Edith Bartlett war jedoch nicht nur reich, sondern auch noch schön und anmutig.
Ich weiß recht gut, daß meine Leserinnen gegen die se meine Behauptung protestieren werden. „Hübsch mag sie wohl gewesen sein“, höre ich sie sagen, „allein anmutig nun und nimmer! Wie konnte ein Mädchen in der Kleidung anmutig sein, die in jenen Tagen Mode war? War damals der Kopf nicht mit einem fußhohen, schwindelerregenden Gebäude bedeckt, und bauschten nicht künstliche Vorrichtungen die Kleider hinten derart auf, daß sie die Gestalt mehr verunzierten als irgendeine frühere Erfindung der Schneiderinnen? Kann man sich denken, daß jemand in einem solchen Kostüm anmutig gewesen wäre?“ Der Einwurf ist zutreffend. Ich kann auf ihn nur erwidern, daß sicher und gewiß die Damen des zwanzigsten Jahrhunderts holde Beweise dafür sind, wie bedeutend zweckmäßige Gewänder die weibliche Anmut heben. Trotzdem bleibe ich in der Erinnerung an ihre Urgroßmütter bei der Behauptung, daß selbst die unförmlichste Kleidung ihre Schönheit, den Liebreiz des weiblichen Geschlechts, nicht ganz zu entstellen vermochte.
Unsere Hochzeit sollte stattfinden, sobald das Haus fertig geworden war, das ich für uns in einem der ge suchtesten, das will besagen der vornehmsten Stadttei le erbauen ließ. Man muß nämlich wissen, daß damals die Nachfrage nach Wohnungen in den verschiedenen Stadtteilen Bostons nicht von der natürlichen Umgebung abhing, sondern von der Art der Bevölkerung, die in einer Gegend ihren Sitz hatte. Jede Klasse oder Na tion wohnte für sich, in ihren eigenen Vierteln. Der Reiche, der unter den Armen, der Gebildete, der unter den Ungebildeten sein Heim hatte, glich einem Menschen, der abgeschieden und einsam unter einer neiderfüllten und fremden Rasse lebte. Als ich den Bau meines Hauses beginnen ließ, hatte ich vorausgesetzt, daß er im Winter 1886 vollendet sein würde. Im Frühling des folgenden Jahres stand das Haus jedoch noch unfertig da, und meine Verheiratung lag noch in der Zukunft. Die Verzögerung war ganz dazu angetan, einen feurigen Verliebten zur Verzweiflung zu bringen. Sie wurde verursacht durch eine Reihe von Streiks, das heißt vereinbarter Arbeitseinstellungen der Maurer, Zimmerleute, Maler, Klempner und anderer Bauhandwerker. Ich erinnere mich nicht mehr der besonderen Ursachen dieser Ausstände. Streiks waren nämlich in jener Zeit so alltäglich geworden, daß man sich gar nicht mehr um ihre besonderen Anlässe kümmerte. Seit der großen wirtschaftlichen Krise des Jahres 1873 war es ohne Aufhören bald in dem einen, bald in dem anderen Industriezweig zu Ausständen gekommen. Die Dinge hatten sich in der Tat so weit zugespitzt, daß es eine Ausnahme schien, wenn irgendeine Arbeiterkategorie ihrem Beruf länger als etliche wenige Monate hindurch ununterbrochen nachging.
Der Leser, der den angeführten Tatsachen Beachtung geschenkt hat, wird natürlich diese Störungen des gesellschaftlichen Wirtschaftslebens richtig
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