Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Zufälle, durch die ein Sitz ganz und gar verlorengehen konnte. Denn diese Plätze waren ebenso unsicher wie angenehm. Bei jedem plötzlichen Stoß der Kutsche wurden Personen aus ihr herausgeschleudert und stürzten zu Boden. Einmal gefallen, war sie sofort gezwungen, im Geschirr zu gehen und das Fuhrwerk vorwärtsschleppen zu helfen, in dem sie wenige Minuten früher so angenehm dahinkutschiert waren. Selbstverständlich galt es für ein entsetzliches Unglück, wenn jemand seinen Sitz verlor. Wie eine stets dräuende Wolke beschattete die Befürchtung das Glück der Fahrenden, daß sie oder die Ihrigen aus der Kutsche geschleudert werden könnten.
„Aber“, wird der Leser fragen, „dachten die Fahrenden denn nur an sich? Wurde ihnen ihr Luxus nicht unerträglich, wenn sie ihn mit dem Lose ihrer an den Wagen gespannten Brüder und Schwestern verglichen; wenn sie sich sagen mußten, daß ihr eigenes Gewicht deren Mühsal vergrößerte? Empfanden sie kein Mitleid für Mitgeschöpfe, von denen sie nur ein Glückszufall unterschied?“ O gewiß! Die Fahrenden gaben öfters ihrem Mitleid für die Ziehenden Ausdruck. Namentlich dann, wenn das Fuhrwerk an eine schlechte Stelle der Straße oder an einen besonders steilen Hügel kam, und das geschah ja immer wieder. Es war ein entsetzlicher Anblick, den dann die verzweifelten Anstrengungen des Vorspanns boten, das krampfhafte Vorwärtsdrän gen und Zurücksinken der Ziehenden, die vom Hunger er barmungslos vorwärtsgepeitscht wurden, mochten auch Unzählige zusammenbrechen und in den Kot getreten werden. Und dieser Anblick verfehlte nicht, oft sehr edle Gefühlsausbrüche der Fahrenden hervorzulocken.
Zu solchen Zeiten riefen die einen den sich keuchend Mühenden des Vorspanns ermutigende Worte zu, ermahnten sie zur Geduld und Ausdauer und vertrösteten sie auf das Jenseits, wo ewige Freuden sie für ihr hartes Schicksal im Diesseits entschädigen sollten. Andere wieder sammelten, um Salben und Tränklein für die Verletzten und Krüppel zu kaufen. Man hielt es dann übereinstimmend für höchst bedauerlich, daß der Wagen gar so schwer zu ziehen sei, und fühlte sich allgemein erleichtert, wenn die besonders schlechte Wegstelle vorüber war. Dieses Gefühl der Erleichterung war allerdings nicht bloß auf Rechnung des Mitleids mit den Ziehenden zu setzen. Vielmehr brachten die bösen Stellen auch immer etwas Gefahr für die Fahrenden mit sich. Die Kutsche kam dort oft so stark ins Schwanken, daß sie ganz umzustürzen drohte, die Fahrenden mußten dann befürchten, von ihren Sitzen herabgeschleudert zu werden. Der Wahrheit gemäß muß ich zugestehen, daß der Anblick des Elends der Ziehenden, die sich am Seil abquälten, nur eine Hauptwirkung hatte: er erhöhte in den Augen der Fahrenden den Wert ihrer Sitzplätze auf dem Wagen, und sie klammerten sich daher noch krampfhafter an sie fest. Wenn die Fahrenden nur sicher gewesen wären, daß weder sie noch die Ihrigen jemals vom Wagen fallen würden! Sie hätten sich dann wahrscheinlich darauf beschränkt, zu den Sammlungen für Salben und Verbandszeug beizusteuern, ohne sich weiter im geringsten um die Leute zu kümmern, die den Wagen schleppten.
Ich weiß wohl, daß dieses ihr Verhalten den Männern und Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts als eine unglaubliche Unmenschlichkeit erscheinen muß. Allein zwei höchst merkwürdige Tatsachen erklären es zum Teil. Erstens glaubte man in jener Zeit fest und aufrichtig, die menschliche Gesellschaft könne nicht anders vorwärtskommen, als wenn viele den Wagen ziehen und wenige darin fahren würden. Ja, mehr noch: man war sogar ehrlich davon überzeugt, daß es nicht möglich sei, das Geschirr, die Kutsche, die Straße oder die Verteilung der Arbeit wesentlich zu verbessern. Die Dinge wären zu allen Zeiten so gewesen und würden auch zu allen Zeiten so bleiben, hieß es. Das sei sehr bedauerlich, könne aber nicht geändert werden, und die Philosophie verbiete, Mitleid für Dinge zu vergeuden, für die es keine Abhilfe gäbe.
Noch merkwürdiger ist die andere Tatsache. Die in dem Wagen Fahrenden hegten nämlich in der Regel die höchst sonderbare Einbildung, daß sie ihren ziehenden Brüdern und Schwestern nicht genau glichen, sondern daß sie aus feinerem Ton wären, gewissermaßen einer höheren Klasse von Wesen angehörten, die mit Fug und Recht Anspruch darauf erheben könnten, gezogen zu werden. Das scheint unbegreiflich, aber da ich einst in dem nämlichen Wagen
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