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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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eine ganz andere Bedeutung als jetzt gehabt haben. Wie hätte es sonst in einer Gesellschaft angewendet werden können, in der fast jedes Mitglied für die notwendigsten Existenzmittel auf andere angewiesen war und dadurch in bittere persönliche Abhängigkeit von. ihnen geriet. Die Armen waren von den Reichen abhängig, die Arbeiter von den Unternehmern, die Frauen von den Männern, die Kinder von den Eltern. Es hätte als das Natürlichste und Nächstliegende erscheinen müssen, daß alles, was die Nation erzeugte, unmittelbar an ihre Glieder verteilt wurde. Wir erhalten jedoch heutzutage den Eindruck, daß Sie sich alle mögliche Mühe gegeben haben, um ein System der Verteilung von Hand zu Hand auszuklügeln, das für alle Empfänger das höchste Maß persönlicher Demütigung in sich schloß.
    Gewiß mag die natürliche Zuneigung der Gatten füreinander bei Liebesheiraten die materielle Abhängigkeit der Frau vom Manne erträglich gemacht haben, die in Ihrer Zeit die Regel war. Allein sogar in diesem Falle wird sie nach meinem Empfinden für selbstbewußte Frauen noch demütigend genug geblieben sein. Wie drückend aber mußte sie in den schier unzähligen Fällen empfunden werden, wo die Frau gezwungen war, sich unter der Form der Ehe oder ohne diese Form zu verkaufen, um nur leben zu können? So unempfindlich auch Ihre Zeitgenossen gegen die empörendsten Mißstände der damaligen Gesellschaft waren, scheinen sie doch eine Ahnung davon gehabt zu haben, daß in der Lage der Frau nicht alles so wäre, wie es sein sollte. Freilich: über das Mitleid mit dem Los des weiblichen Geschlechts scheinen sie nicht hinausgekommen zu sein! Nie kam ihnen der Gedanke, daß sich die Männer sowohl eines Raubes wie einer Grausamkeit schuldig machten, wenn sie die gesamten Schätze der Welt an sich rissen und die Frauen um ihren Anteil daran bitten und betteln ließen. Aber, du lieber Himmel, Herr West! Ich rede mich da in einen Eifer hinein, als ob die Beraubung, die Leiden und die Schmach jener armen Frauen nicht schon seit einem Jahrhundert vorüber wären, oder als ob Sie die Verantwortung für Zustände trügen, die Sie ohne Zweifel ebensosehr beklagten wie ich es tue.“
    „Ich muß meinen Teil der Verantwortlichkeit für die Welt tragen, so wie sie früher war“, sagte ich. „Ich kann auch keinen anderen Entschuldigungsgrund geltend machen, als daß eine durchgreifende Verbesserung des Geschickes der Frau unmöglich war, solange nicht die Nation die nötige Reife erlangt hatte, die neue Wirtschaftsordnung zu schaffen. Wie Sie selbst bemerkten, wurzelten die Gebundenheit, die Ohnmacht der Frau darin, daß sie für ihren Lebensunterhalt vom Manne abhängig war. Ich kann mir nicht denken, daß eine andere als Ihre Gesellschaftsordnung die Frau von der Herrschaft des Mannes befreit haben würde, wie sie gleichzeitig auch den Mann von der Herrschaft irgendeines anderen Mannes befreit hat. Ich vermute übrigens, daß ein so tiefgehender Umschwung in der Stellung der Frau sich nicht vollzogen haben kann, oh ne daß dadurch auch der Verkehr der Geschlechter in ganz erheblicher Weise beeinflußt worden ist. Es wird sehr interessant für mich sein, das zu studieren.“
    „Als hauptsächlichste Veränderung“, sagte Doktor Leete, „wird Ihnen, so meine ich, die völlige Freiheit und Ungezwungenheit auffallen, die jetzt den Verkehr zwischen Männern und Frauen auszeichnet. Sie steht in schroffem Gegensatz zu den verkünstelten und verschrobenen Formen, in denen er sich zu Ihrer Zeit bewegte. Männer und Frauen verkehren gegenwärtig durchaus unbefangen und als vollkommen Gleichstehende miteinander, sie freien einander, nur aus Liebe. Die Tatsache, daß in Ihrer Zeit die Frauen für ihren Unterhalt auf die Männer angewiesen waren, machte sie damals in Wirklichkeit zu dem Teil, der bei der Ehe hauptsächlich gewann. Soweit wir auf Grund von Berichten aus jener Zeit urteilen können, scheint diese Tatsache in den unteren Klassen mit zynischer Offenheit anerkannt worden zu sein. In den feineren Kreisen ward sie dagegen durch ein ganzes System hergebrachter und verlogener Formen verhüllt, das gerade die entgegengesetzte Meinung erwecken sollte: nämlich, daß der Mann bei der Ehe hauptsächlich gewinne. Um diese konventionelle Lüge aufrechtzuerhalten, war es unerläßlich, daß der Mann stets die Rolle des Freiers spielte. Nichts hätte deshalb den Anstand mehr verletzt, als wenn eine Frau ihre Zuneigung zu einem Manne verraten

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