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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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frei und ungehindert zum Heil der Menschheit, und es wird noch unterstützt durch eine starkgewurzelte Moral. Zu Ihrer Zeit beherrschte der Individualismus die Gesellschaft und ertötete nicht nur jedes wärmere Gefühl der Brüderlichkeit und Interessengemeinschaft zwischen den Lebenden, sondern ließ obendrein kein Bewußtsein der Verantwortlichkeit einer Generation für das ihr folgende Geschlecht aufkommen. Noch nie vorher hat sich das Bewußtsein dieser Verantwortlichkeit machtvoll und allgemein durchgesetzt. Heutzutage ist es eine der großen ethischen Ideen geworden, die die Menschheit leiten. Den natürlichen Trieb, die besten und vollkommensten des anderen Geschlechts zur Ehe zu wählen, verstärkt es durch die tiefe Überzeugung, daß dies Pflicht gegen die kommenden Geschlechter sei. Kein einziges der Mittel, durch die wir Fleiß, Talent, Genie und jegliche Tüchtigkeit zu ermutigen und anzufeuern pflegen, wirkt auf unsere jungen Männer auch nur annähernd so stark wie die Tatsache, daß unsere Frauen als Richterinnen der Gattung über ihnen thronen und sich vorbehalten, die Sieger durch ihre eigene Person zu belohnen. Kein Sporn und Preis wirkt gleich aneifernd wie der Gedanke, daß kein strahlendes Frauenantlitz dem Trägen und Unfähigen zulächeln wird. Zu Hagestolzen werden heutzutage fast ausnahmslos nur Männer, denen es nicht gelungen ist, ihre Lebensaufgabe mit Ehren zu erfüllen. Die Frau muß Mut besitzen, und zwar obendrein eine sehr traurige Art von Mut, die sich durch Mitleid dazu bewegen läßt, einen dieser Unglücklichen zum Gatten zu nehmen. Sie stellt sich in schärfsten Gegensatz zu der öffentlichen Meinung, denn im übrigen ist sie ja vollständig frei. Ich muß hinzufügen, daß in dieser Beziehung nichts unwiderstehlicher und zwingender auf sie wirkt als das Urteil ihrer eigenen Geschlechtsgenossinnen. Und das ist strenger als das der Männer. Unsere Frauen sind sich voll der Verantwortlichkeit bewußt, die sie als Hüterinnen der kommenden Welt tragen, denen die Schlüsseln der Zukunft anvertraut sind. Ihr Pflichtgefühl grenzt in dieser Beziehung an religiöses Empfinden. Wie in einer Religion erziehen sie ihre Töchter von Kindheit an in dem Gefühl ihrer Verantwortlichkeit gegen die Ungeborenen.“
    An jenem Abend blieb ich noch lange in meinem Zimmer wach und las einen Roman von Berrian, den mir Doktor Leete gegeben hatte. Die Handlung drehte sich um eine Situation, in der die moderne Auffassung von der elterlichen Verantwortlichkeit zum Ausdruck gelangte, wie sie von Doktor Leete in seinen letzten Worten gekennzeichnet worden war. Ein Romanschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts würde eine derartige Situation fast unfehlbar, so behandelt haben, daß er im Leser eine krankhafte Sympathie mit der gefühlsseligen Selbstsucht der Liebenden erregt hätte und Groll gegen das ungeschriebene Gesetz, das sie verletzten. Ich brauche nicht näher zu schildern – denn wer hat nicht „Ruth Elton“ gelesen! –, wie ganz anders Berrian den Gegenstand erfaßt und darstellt, und mit welch gewaltiger Wirkung er den Grundsatz einschärft: „Unsere Macht über die Ungeborenen ist der Gottes gleich, und unsere Verantwortlichkeit gegen sie ist so groß wie die seine gegen uns. So wie wir unsere Pflicht gegen sie erfüllen, möge er uns richten.“

 
26. Kapitel
Die Predigt eines sozialistischen Geistlichen {21}
     
    Wenn meiner Meinung nach jemand zu entschuldigen war, daß er die Reihe der Wochentage vergaß, so war ich es in meiner Lage. In der Tat, nach allem, was ich bereits vom zwanzigsten Jahrhundert gehört und gesehen hatte, würde es mich durchaus nicht überrascht haben, wenn man mir gesagt hätte, daß die Art der Zeitrechnung völlig verändert worden sei, und daß man die Tage nicht mehr in Gruppen von sieben, sondern von je fünf, zehn oder fünfzehn zusammenfasse. Am Morgen nach dem im letzten Kapitel erzählten Gespräch fiel es mir zum erstenmal ein, mich nach dem Wochentag zu erkundigen. Beim Frühstück fragte mich nämlich Doktor Leete, ob ich wohl eine Predigt hören möchte.
    „Es ist heute also Sonntag!“ rief ich aus.
    „Jawohl“, erwiderte er. „Am Freitag vor acht Tagen waren wir so glücklich, die Entdeckung des verschütteten Zimmers zu machen, der wir verdanken, daß wir uns heute morgen in Ihrer Gesellschaft befinden. Am Sonnabend, kurz nach Mitternacht, schlugen Sie zum erstenmal die Augen auf, und Sonntagnachmittag erwachten Sie zum zweitenmal und

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