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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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mit völlig wiederhergestellten Kräften.“
    „So gibt es also bei Ihnen noch Sonntage und Predigten“, sagte ich. „Wir hatten Propheten, die weissagten, daß die Welt schon lange vor dieser Zeit mit beiden aufgeräumt haben werde. Ich bin doch begierig, wie sich die Kirche in Ihre übrige Gesellschaftsordnung einfügt. Wie ich vermute, haben Sie eine Art Nationalkirche mit staatlich angestellten Geistlichen.“
    Doktor Leete lachte, und Frau Leete sowie Edith schienen von meiner Frage sehr belustigt.
    „Aber, Herr West“, sagte Edith, „für welch wunderliche Heilige müssen Sie uns halten! Sie waren bereits im neunzehnten Jahrhundert über eine Staatsreligion und die mit ihr zusammenhängenden Einrichtungen hinaus, und Sie meinen, wir seien jetzt dazu zurückgekehrt?“
    „Aber wie vertragen sich freie Kirchen und Geistliche, die nicht vom Staate angestellt, werden, damit, daß alle Gebäude, Nationaleigentum sind und allgemeine Arbeitspflicht für alle besteht?“ fragte ich zurück.
    „Die Formen der Religionsübung des Volkes haben natürlich im Laufe eines Jahrhunderts ganz erhebliche Veränderungen erfahren“, versetzte Doktor Leete, „aber selbst vorausgesetzt, daß dies nicht der Fall gewesen wäre, würden sie sich doch sehr gut unserer Gesellschaftsordnung anpassen können. Die Nation stellt gegen einen verbürgten Mietzins jedem einzelnen oder jeder Gruppe von Personen ein Gebäude zur Verfügung, das so lange benutzt werden darf, wie der Mietzins entrichtet wird. Was die Geistlichen anbelangt, so kann man sich ihre Amtstätigkeit genau auf die nämliche Weise sichern wie die Dienste eines Redakteurs. Jeder beliebigen Anzahl von Bürgern steht es frei, sich die Dienste jemandes – seine Zustimmung natürlich vorausgesetzt – für einen besonderen persönlichen Zweck zu verschaffen, der mit der nationalen Arbeitspflicht nichts zu tun hat. Sie braucht nur auf Rechnung der betreffenden Kreditkarten der Nation eine Entschädigung dafür zu zahlen, daß sie dem Arbeitsheer die Arbeitskraft jener Persönlichkeit entzieht. Die der Nation entrichtete Entschädigung entspricht dem Gehalt, das zu Ihrer Zeit den Geistlichen usw. selbst gezahlt wurde. Die mannigfaltige Anwendung des angedeuteten Grundsatzes läßt der Privatinitiative auf all den Gebieten freien Spielraum, wo die Verstaatlichung nicht durchführbar ist. Wenn Sie heute eine Predigt hören wollen, so können Sie entweder in eine Kirche gehen oder auch zu Hause bleiben.“
    „Wie kann ich predigen hören, wenn ich zu Hause bleibe?“
    „Sie brauchen uns nur in das Musikzimmer zu begleiten und sich einen bequemen Platz auszusuchen. Es gibt zwar noch Leute, die Predigten lieber, in der Kirche hören, aber meist werden unsere Predigten wie unsere Musikaufführungen nicht öffentlich gehalten, sondern in akustisch gebauten Räumen, die mit den Häusern der Abonnenten durch Telephonleitungen verbunden sind. Sollten Sie es vorziehen, in eine Kirche zu gehen, so werde ich Sie gern dahin begleiten, aber ich bin überzeugt, daß Sie wirklich nirgends eine bessere Rede hören würden als hier im Hause. Wie ich nämlich aus der Zeitung ersehen habe, predigt heute vormittag Herr Barton, und er predigt nur durch das Telephon. Seine Zuhörerzahl erreicht oft eine Höhe von einhundertfünfzigtausend.“
    „Wenn kein anderer Grund mich veranlassen könn te, Herrn Barton zu lauschen, so würde mich schon die Neuheit des Experiments bestimmen, eine Predigt unter solchen Umständen zu hören“, sagte ich.
    Ein oder zwei Stunden später, als ich lesend in der Bibliothek saß, holte mich Edith ab. Ich folgte ihr in das Musikzimmer, wo Herr und Frau Leete schon warteten. Kaum hatten wir bequem Platz genommen, als es klingelte. Wenige Augenblicke darauf redete die Stimme eines Mannes in der Stärke des gewöhnlichen Gesprächstones zu uns, so daß es schien, als ob sie von einer unsichtbaren Person im Zimmer selbst ausginge. Die Stimme aber sprach also:
    „In der vergangenen Woche ist ein Kritiker aus dem neunzehnten Jahrhundert unter uns gekommen, ein lebender Vertreter der Zeit unserer Urgroßeltern. Es müßte wunderbar sein, wenn eine so ungewöhnliche Tatsache unsere Einbildungskraft nicht stark beeinflußt hätte. Sicherlich sind die meisten von uns durch sie zu dem Versuche angeregt worden, sich die Gesellschaft vorzustellen, wie sie vor hundert Jahren war, und sich klar zu machen, was es bedeutet haben muß, damals zu leben. Indem ich Sie nun

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