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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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hätte, ehe dieser den Wunsch geäußert hatte, sie zu heiraten. In unseren Bibliotheken stehen tatsächlich Werke von Schriftstellern Ihrer Zeit, die eigens geschrieben worden sind, um die Frage zu erörtern, ob eine Frau unter irgendwelchen möglichen Umständen, ohne ihrem Geschlecht Unehre zu machen, unaufgefordert ihre Liebe gestehen dürfe. Das dünkt uns heutzutage höchst abgeschmackt und töricht, aber wir wissen recht gut, daß unter den damaligen Umständen dies Problem seine ernste Seite haben mochte. Durch das Geständnis ihrer Liebe forderte ja eine Frau den Mann tatsächlich auf, die Last ihres Unterhaltes auf sich zu nehmen. Man versteht daher, daß Stolz und Zartgefühl die Stimme des Herzens zum Schweigen bringen konnten. Wenn Sie erst unter meinen Zeitgenossen verkehren werden, Herr West, so müssen Sie darauf gefaßt sein, daß unsere jungen Leute Ihnen gerade über diese Dinge gar vielerlei Fragen vorlegen. Es ist ja natürlich, daß sie sich für diese Seite der alten Sitten und Gebräuche ganz besonders interessieren.“ { * }
    „Und so erklären also die jungen Mädchen des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Liebe?“
    „Gewiß“, erwiderte Doktor Leete. „Sie haben nicht mehr Grund als liebende Männer, ihre Gefühle zu verbergen. Koketterie würde bei einer Frau ebenso verächtlich sein wie bei einem Manne. Gespielte Kälte, die zu Ihrer Zeit nur selten einen Liebenden täuschte, würde ihn heutzutage völlig irreführen, denn niemand denkt daran, zu heucheln.“
    „Eine notwendige Folge davon, daß die Frauen unabhängig geworden sind, erkenne ich selbst“, sagte ich. „Heutzutage kann es nur noch Ehen aus Liebe geben.“
    „Das ist selbstverständlich“, erwiderte Doktor Leete.
    „Welch eine Welt, in der es nichts als reine Liebesehen gibt!“ rief ich aus. „Ach, Doktor Leete, es muß Ihnen schlechterdings unmöglich sein, nachzuempfinden, wie erstaunlich eine solche Welt einem Kinde des neunzehnten Jahrhunderts erscheint.“
    „Ich kann mir das einigermaßen vorstellen“, versetzte der Doktor. „Aber die von Ihnen gepriesene Tatsache besitzt eine viel größere Tragweite, als Sie sich im ersten Augenblick vergegenwärtigen. Sie bedeutet, daß zum erstenmal, seit es eine Geschichte der Menschheit gibt, das Prinzip der geschlechtlichen Auslese sich ungehindert durchsetzen kann, mit seiner Wirkung, die besseren Typen der Gattung zu erhalten und fortzupflanzen und die schlechteren aussterben zu lassen. Weder die Armut mit ihren Bedrängnissen, noch die Sehnsucht nach einem Heim führten heute die Frauen in Versuchung, als Väter ihrer Kinder Männer zu wählen, die sie nicht lieben und achten können. Reichtum und Rang lenken nicht länger die Aufmerksamkeit von den persönlichen Eigenschaften ab. Nicht mehr ‚vergoldet Geld des Narren enge Stirn’. Die Vorzüge des Körpers, des Geistes und Charakters, wie Schönheit, Klugheit, Witz, Beredsamkeit, künstlerisches Talent, Mut, gehen nicht verloren, sie sind der Vererbung auf die Nachkommenschaft sicher. Jede Generation wird sozusagen durch ein feineres Sieb gesichtet als die vorausgehende. Die Eigenschaften, die wir bewundern, bleiben erhalten, solche dagegen, die uns abstoßen, werden ausgemerzt. Es gibt natürlich viele Frauen, bei denen die Liebe für einen Mann Hand in Hand mit der Bewunderung für ihn gehen muß, und die nach einer glänzenden Ehe trachten. Aber auch für diese Frauen bleibt die allgemeine Regel der Liebesehe in Kraft. Denn eine glänzende Ehe eingehen, bedeutet jetzt nicht mehr, sich einem Manne mit Geld oder Titeln zu vermählen, sondern jemand, der sich durch seine tüchtigen oder bewundernswerten Leistungen im Dienste der Menschheit über seine Mitbürger erhoben hat. Solche Leute bilden heutzutage die einzige Aristokratie, mit der eine Verbindung eine Auszeichnung ist.
    Sie sprachen vor etlichen Tagen davon, daß unser Volk an körperlichen Vorzügen Ihren Zeitgenossen überlegen sei. Wichtiger als alle die von mir damals erwähnten Ursachen zur Veredlung der Gattung ist vielleicht der Einfluß gewesen, den die durch nichts beeinträchtigte geschlechtliche Auslese auf die Hebung der zwei oder drei letzten Generationen ausgeübt hat. Ich bin überzeugt, daß eine längere Beobachtung meiner Zeitgenossen Ihnen zeigen wird, daß sie sich nicht bloß körperlich, sondern auch geistig und moralisch veredelt haben. Es würde seltsam sein, wenn dem anders wäre. Eines der großen Naturgesetze wirkt ja jetzt

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