Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
daß die letztere Annahme die richtige sein müßte, vorausgesetzt, daß seifte seelische Verfassung auch nur entfernt der meinen gleichen würde, als ich mich so mit einem Schlage aus der alten in eine neue Welt versetzt sah. Nachdem der erste überwältigende Eindruck sich gelegt hatte, bemächtigten sich Erstaunen und Neugierde über meine neue Umgebung meines Geistes und ließen keinen Raum für andere Gedanken. Die Erinnerung an mein früheres Leben war für den Augenblick wie ausgelöscht.
Kaum fühlte ich mich dank der gütigen Fürsorge meines Wirtes munter und kräftig, so empfand ich das brennende Verlangen, auf das Dach des Hauses zurückzukehren. Bald darauf saßen wir dort, in bequeme Stühle zurückgelehnt. Unter uns breitete sich ringsum die Stadt vor unseren Blicken aus. Doktor Leete beantwortete meine zahlreichen Fragen über alte Eigentümlichkeiten der Stadt, die ich vermißte, und neue, die an ihre Stelle getreten waren. Dann wollte er wissen, welcher Unterschied zwischen der alten und neuen Stadt mir am meisten auffiele.
„Um mit Kleinem zu beginnen“, erwiderte ich, „so glaube ich, daß das Fehlen der Schornsteine und jeglichen Rauches mir zuerst als Besonderheit aufgefallen ist.“
„Ach“, rief mein Gefährte lebhaft interessiert aus, „ich dachte gar nicht mehr an die Schornsteine, es ist schon lange her, daß sie außer Gebrauch gekommen sind. Seit fast hundert Jahren ist das rohe Verbrennungsverfahren veraltet, mittels dessen man zu Ihrer Zeit Wärme erzeugte.“
„Was mir im allgemeinen an der Stadt am meisten auffällt“, sagte ich, „das ist der große Volkswohlstand, den ihre Pracht beweist.“
„Ich gäbe viel darum, einen Blick auf das Boston Ihrer Tage werfen zu können“, versetzte Doktor Leete. „Wie ich aus Ihren Worten schließe, schauten ohne Zweifel die Städte jener Zeit recht armselig aus. Wenn man damals auch genug Geschmack besessen hätte – und ich bin nicht so unhöflich, dies in Frage zu stellen –, um glänzende Städte bauen zu können, so hätten doch die Mittel dazu gefehlt. Sie konnten nicht vorhanden sein bei der allgemeinen Armut, die die Folge der absonderlichen Wirtschaftsordnung Ihrer Zeit war. Außerdem ließ der damals herrschende übergroße Individualismus keinen starken Gemeinsinn aufkommen. Es scheint, daß der ganze vorhandene Reichtum fast ausschließlich für Zwecke des privaten Luxus vergeudet wurde. Heutzutage wird im Gegenteil der überschüssige gesellschaftliche Reichtum am liebsten für die Verschönerung der Stadt verwendet, weil an ihr alle in gleichem Maße ihre Freude haben.“
Die Sonne begann sich zu neigen, als wir auf das Dach des Hauses zurückkehrten, und während unseres Gesprächs senkte sich allmählich die Nacht auf die Stadt.
„Es wird spät“, sagte Doktor Leete. „Lassen Sie uns hinabgehen; ich möchte Ihnen meine Frau und meine Tochter vorstellen.“
Seine Worte brachten mir die weiblichen Stimmen in Erinnerung, die ich um mich flüstern gehört hatte, als mir das Bewußtsein zurückgekommen war. Ich stimmte dem Vorschlag lebhaft zu, denn ich war sehr neugierig, wie die Damen des Jahres 2000 aussähen. Das Zimmer, in dem wir die Gattin und Tochter meines Wirtes fanden, war von einem milden Licht erfüllt, wie das Innere des ganzen Hauses überhaupt. Ich war sicher, daß es künstliches Licht sein mußte, obgleich ich die Quelle nicht entdecken konnte, von der es ausstrahlte. Frau Leete war eine ausnehmend stattliche, wohlerhaltene Dame, die ungefähr das Alter ihres Gatten haben mochte. Ihre Tochter stand in der ersten jungfräulichen Blüte, sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Ihr Antlitz mit den tiefblauen Augen, dem zarten Teint und vollendet schönen Zügen war geradezu bezaubernd. Aber selbst wenn ihr Gesicht besonderer Reize ermangelt hätte, so würde ihr doch der tadellose Wuchs einen Platz unter den Schönheiten des neunzehnten Jahrhunderts gesichert haben. Weibliche Zartheit und Anmut paarten sich in dem lieblichen Geschöpf herrlich mit Gesundheit und reicher Lebenskraft, Eigenschaften, die nur zu oft den jungen Damen gefehlt hatten, mit denen allein ich sie vergleichen konnte. Doktor Leetes Tochter hieß Edith, wie meine Braut. Das war ein sonderbarer Zufall, der zwar, verglichen mit der allgemeinen Seltsamkeit meiner Lage, nur geringfügig schien, mir aber trotzdem auffiel.
Der nun folgende Abend steht sicherlich in der Geschichte des geselligen Verkehrs einzig da.
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