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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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Schmeichelei verdächtig zu machen, kann ich wohl behaupten, daß man sich einen interessanteren Gesellschafter als Sie kaum denken kann. Sicher hat man nicht oft Gelegenheit, sich mit einem Manne des neunzehnten Jahrhunderts zu unterhalten.“
    Schon während des ganzen Abends hatte ich nicht ohne Bangen an den Augenblick gedacht, wo ich mich für die Nacht zurückziehen und allein sein würde. Ich hatte mein seelisches Gleichgewicht in der Gesellschaft dieser ungemein freundlichen Fremden zu bewahren vermocht, angeregt und unterstützt durch ihre Sympathie und ihr Interesse. Aber sogar in den Pausen unserer Unterhaltung hatte mich grell wie ein Blitz das Vorgefühl des Grauens durchzuckt, das mich erwartete, sobald ich keine Ablenkung mehr haben würde. Ich wußte im voraus, daß ich in der bevorstehenden Nacht kein Auge schließen könnte, und wenn ich bekenne, daß ich mich vor dem Wachliegen und Nachdenken fürchtete, so beweist dies meiner Ansicht nach noch lange keine Feigheit. Ich teilte das meinem Wirt in Erwiderung seiner Frage offen mit. Er meinte darauf, es würde höchst unnatürlich sein, wenn mir anders zumu te wäre. Was jedoch meine Schlaflosigkeit anbeträfe, so möge ich mich nicht sorgen. Sobald ich zu Bett zu gehen wünsche, werde er mir ein Mittel geben, das unfehlbar einen gesunden Schlaf bewirke. Am nächsten Morgen würde ich dann sicherlich so ruhig erwachen, als ob ich schon seit langem ein Bürger der neuen Welt sei.
    „Ehe das möglich ist“, erwiderte ich, „muß ich etwas mehr von dem Boston wissen, in dem ich auferstanden bin. Als wir uns vorhin auf dem Dache des Hauses befanden, sagten Sie mir, daß das Jahrhundert seit meinem Einschlafen durch größere Veränderungen der menschlichen Gesellschaft gekennzeichnet sei als man ches vorangegangene Jahrtausend. Angesichts der Stadt, die sich zu meinen Füßen ausdehnte, könnte ich das wohl glauben. Allein ich bin begierig, etwas von der Art dieser Veränderungen zu erfahren. Um mit irgend etwas den Anfang zu machen – denn das Thema ist jedenfalls umfassend und ergiebig –, welche Lösung haben Sie für die Arbeiterfrage gefunden, falls Sie überhaupt eine solche gefunden haben? Die Arbeiterfrage war im neunzehnten Jahrhundert das Rätsel der Sphinx, und als ich verschwand, drohte die Sphinx die Gesellschaft zu verschlingen, weil diese keine Antwort fand. Es ist schon der Mühe wert, hundert Jahre geschlafen zu haben, um die rechte Antwort zu erfahren, wenn diese tatsächlich im zwanzigsten Jahrhundert gefunden worden sein sollte.“
    „Heutzutage“, antwortete Doktor Leete, „ist nichts dergleichen wie eine Arbeiterfrage bekannt, und es ist unmöglich, daß eine solche je wieder auftaucht. Wir können also, meine ich, Anspruch darauf erheben, die se Frage gelöst zu haben. Die Gesellschaft würde tatsächlich mit Fug und Recht verdient haben, verschlungen zu werden, wenn sie ein so einfaches Rätsel nicht hätte lösen können. Überhaupt hatte es die Gesellschaft in Wirklichkeit gar nicht nötig, das Rätsel zu lösen: es löste sich selbst. Seine Lösung war das Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung, die gar nicht anders enden konnte, als wie sie geendet hat. Die Gesellschaft hatte weiter nichts zu tun, als diese Entwicklung anzuerkennen und zu unterstützen, sobald ihre Richtung und ihr Ziel nicht mehr zu verkennen waren.“
    „Ich kann nur sagen“, antwortete ich, „daß zur Zeit, wo ich mich schlafen legte, eine derartige Entwicklung nicht erkannt wurde.“
    „Es war im Jahre 1887, sagten Sie, als Sie in Ihren Schlaf verfielen?“
    „Gewiß, am 30. Mai 1887.“
    Mein Gefährte schaute mich einige Augenblicke lang sinnend an und bemerkte dann: „Und Sie sagen mir, daß sogar damals die Natur der Krise nicht allgemein erkannt wurde, der die Gesellschaft entgegenging! Natürlich schenke ich Ihrer Behauptung vollen Glauben. Viele unserer Geschichtsschreiber haben die Erscheinung erörtert, daß die Leute Ihrer Tage mit einer eigentümlichen Blindheit für die Zeichen der Zeit geschlagen waren. Allein wenig geschichtliche Tatsachen sind heute für uns schwerer zu begreifen als eben diese Blindheit. Ein Rückblick auf Ihre Zeit läßt die Anzeichen der bevorstehenden gesellschaftlichen Umwälzung so klar und unzweideutig hervortreten, daß uns scheint, sie müßten auch von Ihren Zeitgenossen erkannt worden sein. Es würde mich sehr interessieren, Herr West, wenn Sie mir eine etwas bestimmtere Vorstellung davon geben

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