Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Erinnerungen in mir, aber der Anblick regt mich nicht auf, wie ich es erwartet hatte. Sie können davon nicht mehr überrascht sein, als ich es selbst bin. Seit jenem furchtbaren Morgen, wo Sie mir zu Hilfe kamen, habe ich versucht, jeden Gedanken an mein früheres Leben zu verbannen, so, wie ich auch vermied, hierherzugehen, aus Furcht vor der damit verbundenen seelischen Erschütterung. Es geht mir wie jemandem, der ein verletztes Glied nicht zu rühren wagte, weil er dessen übergroße Empfindlichkeit fürchtete, der es nun zu bewegen versucht und dabei herausfindet, daß es gelähmt und empfindungslos ist.“
„Wollen Sie damit sagen, daß Ihr Gedächtnis geschwunden ist?“
„Durchaus nicht“, versetzte ich. „Ich erinnere mich an alles, was mit meinem früheren Leben zusammenhängt, aber die Erinnerung weckt keine lebhaften Empfindungen in mir. Mein früheres Leben liegt so klar vor mir, als wäre seit seinem Ende ein Tag verflossen; aber die Gefühle, die durch meine Erinnerungen hervorgerufen werden, sind so verblaßt, als hätte ich bei vollem Bewußtsein das Jahrhundert verlebt, das wirklich verflossen ist. Vielleicht gibt es auch hierfür eine Erklärung. Ein Wechsel unserer Umgebung wirkt ähnlich wie der Verlauf einer langen Zeit: beide rücken uns Vergangenes in weite Ferne. Als ich zuerst aus meinem Starrkrampf erwachte, da erschien mir mein früheres Leben wie der gestrige Tag. Jetzt dagegen, wo ich meine neue Umgebung kennengelernt habe und die wunderbaren Wandlungen sehe, die die Welt umgestalteten, fällt mir die Erkenntnis nicht mehr schwer, sondern leicht, daß ich ein ganzes Jahrhundert geschlafen habe. Können Sie sich vorstellen, daß jemand hundert Jahre in vier Tagen durchlebt? Es kommt mir wirklich so vor, als ob es mir so gegangen wäre, und dieses Gefühl läßt mir mein früheres Leben weit zurückliegend und schattenhaft erscheinen. Können Sie sich vorstellen, daß dies möglich sei?“
„Ich kann es mir schon vorstellen“, erwiderte Edith nachdenklich. „Wir alle sollten dankbar dafür sein, daß dem so ist, denn es bleibt Ihnen dadurch sicherlich viel Leid erspart.“
Ich bemühte mich, mir selbst sowohl wie Edith meinen seltsamen Gemütszustand zu erklären. „Stellen Sie sich vor“, sagte ich, „daß jemand von einem Verlust, der ihn betroffen hat, erst viele, viele Jahre später Kunde erhält, vielleicht erst nach einem halben Menschenalter. Ich denke, seine Empfindungen müßten einigermaßen den meinigen gleichen. Wenn ich der Menschen gedenke, die mir in der so weit zurückliegenden Zeit teuer waren, des Kummers, den sie um meinetwegen gelitten haben müssen, so erfüllt mich weniger leidenschaftlicher Schmerz als wehmutsvolles Mitgefühl für ein Leid, das lange schon vergangen ist.“
„Sie haben uns bisher noch nichts von Ihren Angehörigen erzählt“, sagte Edith. „Standen Ihnen viele so nahe, daß Sie um sie trauerten?“
„Gott sei Dank“, erwiderte ich, „ich hatte nur sehr wenige Verwandte und keine näheren als ein paar Vettern. Aber es gab ein Wesen, das zwar nicht zu meiner Familie gehörte, mir jedoch teurer als irgendein Blutsverwandter war. Sie trug Ihren Namen. Sie sollte binnen kurzem meine Frau werden. Ach! –“
„Ach!“ seufzte Edith neben mir. „Welch furchtbares Weh muß sie empfunden haben.“
Das tiefe Mitgefühl des lieblichen Mädchens berühr te eine Saite in meinem gleichsam erstarrten Herzen. Meinen Augen waren bisher die Tränen versagt gewe sen, nun aber flossen sie über. Als mir die Fassung zurückgekommen war, sah ich, daß auch Edith ihren Tränen freien Lauf gelassen hatte.
„Gott segne Ihr mitfühlendes Herz“, sagte ich. „Möchten Sie wohl ein Bild meiner Braut sehen?“
Auch während des langen Schlafes hatte ein kleines Medaillon mit Edith Bartletts Porträt auf meiner Brust geruht; ich pflegte es an einer goldenen Kette um meinen Hals zu tragen. Ich zog es hervor, öffnete es und gab es meiner Begleiterin. Diese griff hastig danach, betrachtete lange das liebliche Antlitz und drückte ihre Lippen darauf.
„Ich weiß, daß sie gut und liebenswert war und Ihre Tränen wohl verdiente“, sagte Edith. „Aber vergessen Sie nicht, daß sie ihr Herzeleid schon längst nicht mehr zu tragen hat und bereits vor fast hundert Jahren von der Erde geschieden ist.“
So war es in der Tat. Wie tief auch immer der Kummer meiner Braut gewesen sein mochte, seit fast einem Jahrhundert hatte sie aufgehört zu weinen. Bei
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