Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
versetzt werden. Solange die alte Gesellschaftsordnung herrschte, konnte ein Arbeiter wohl seine Beschäftigung aufgeben, wenn er mit seinem Arbeitgeber nicht zufrieden war, aber er setzte damit auch seine Existenzmittel aufs Spiel. Empfindet dagegen einer unserer Arbeiter seine Stellung zu einem Vorgesetzten peinlich, so braucht er nicht für seinen Lebensunterhalt zu zittern, wenn er seine Lage verbessern will. Soll unsere nationale Wirtschaft ihrer Aufgabe gewachsen sein, so bedarf es wohl einer strengen Disziplin in unserem Arbeitsheer, allein das Recht eines jeden Arbeiters auf gerechte und rücksichtsvolle Behandlung ist unbestritten und hat einen starken Rückhalt an der Macht der öffentlichen Meinung. Der Offizier befiehlt, und der Arbeiter gehorcht, jedoch kein Offizier steht so hoch, daß er es wagen dürfte, einen Arbeiter der untersten Klasse hochfahrend zu behandeln. Grobheit oder Roheit eines Beamten gegen das Publikum zählt zu den geringeren Vergehen, die am schnellsten und sichersten ihre Strafe finden. Unsere Richter wachen nicht nur über die Gerechtigkeit, nein, auch über die Höflichkeit in allen Beziehungen unseres öffentlichen Verkehrs. Sogar die wertvollsten Berufsleistungen vermögen ein rohes oder verletzendes Betragen nicht aufzuwiegen.“
Es fiel mir auf, daß Doktor Leete bei allen seinen Erklärungen nur von der „Nation“ sprach und nicht von den Regierungen der einzelnen Bundesstaaten. Ich fragte deshalb, ob durch die Organisation der Nation als eines wirtschaftlich Ganzen die Einzelstaaten in Wegfall gekommen seien.
„Notwendigerweise“, erwiderte mein Gefährte. „Die Einzelregierungen wären der Kontrolle und Disziplin des Arbeitsheeres nur hinderlich gewesen, es bedarf einer zentralisierten, einheitlichen Organisation. Sogar wenn die Einzelregierungen nicht aus anderen Gründen verschwinden mußten, wären sie doch durch die wunderbar vereinfachten Aufgaben der Staatsleitung überflüssig geworden. Die Leitung der nationalen Wirtschaft ist heutzutage fast Hie einzige große Pflicht, die der Regierung obliegt. Die meisten Dinge haben zu existieren aufgehört, die früher Sache der Regierungen waren. Wir haben keine Armee, keine Marine, ja keinerlei militärische Organisation überhaupt. Bei uns gibt es weder ein Ministerium des Äußern noch ein Finanzministerium, wir kennen weder städtische Abgaben noch direkte oder indirekte Steuern; Zoll- und Steuerbehörden sind mithin überflüssig geworden. Unserer Regierung ist eine einzige von all den Aufgaben geblieben, die einer Regierung zu Ihrer Zeit zufielen: die Verwaltung der Justiz und der Polizei. Ich habe Ihnen bereits geschildert, wie einfach unsere Justiz im Vergleich mit dem riesigen, schwerfälligen und verwickelten gerichtlichen Apparat Ihrer Zeit ist. Wie die Aufgaben der Richter ganz erheblich vereinfacht und erleichtert worden sind, weil mit dem Wegfall der Versuchungen zu Verbrechen die meisten Verbrecher selbst verschwanden, so ist auch die Tätigkeit der Polizei eine recht geringfügige.“
„Aber wie kommen bei Ihnen überhaupt Gesetze zustande, wenn in den Einzelstaaten keine gesetzgebenden Körperschaften vorhanden sind, und wenn es keinen Kongreß gibt, der wenigstens alle fünf Jahre zusammentritt?“
„Wir haben keine Gesetzgebung, das heißt so gut wie keine“, erwiderte Doktor Leete. „Nur selten, daß ein Kongreß während seiner Tagung in Erwägung zieht, ob einige neue, wichtig scheinende Gesetze geschaffen werden sollen. Es steht ihm dann jedoch nur das Recht zu, sie dem nächstfolgenden Kongreß zur Annahme zu empfehlen; nichts darf übereilt werden. Wenn Sie einen Augenblick nachdenken, Herr West, so werden Sie finden, daß es uns an Ursachen fehlt, Gesetze zu machen. Die Grundprinzipien unserer Gesellschaft haben für immer mit den Streitfragen und Mißverständnissen aufgeräumt, die zu Ihrer Zeit eine Gesetzgebung zur Notwendigkeit machten.
Volle neunundneunzig Prozent aller Gesetze jener Tage hatten lediglich den Zweck, das Privateigentum rechtlich abzugrenzen und zu schützen, die Beziehungen zwischen Verkäufern und Käufern zu regeln. Abgesehen von Gegenständen, die dem persönlichen Gebrauch dienen, gibt es jetzt kein Privateigentum mehr, und von Kaufen und Verkaufen kann nicht die Rede sein. So sind fast alle Gründe für eine Gesetzgebung verschwunden, die vordem so unentbehrlich war. Zu Ihrer Zeit glich die Gesellschaft einer auf die Spitze gestellten Pyramide. Jede Auflehnung
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