Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Ihrer Eltern und als Ihre eigene erkannt habe. Zuerst, erinnere ich mich, sagte die Stimme Ihres Herrn Vaters: ‚Er wird sogleich die Au gen öffnen. Es ist besser, wenn er zuerst nur einen von uns sieht.’ Darauf sagten Sie, falls ich nicht alles bloß geträumt habe: ‚Versprich mir also, daß du ihm nichts sagen wirst.’ Ihr Herr Vater schien zu zögern, das ver langte Versprechen zu geben, aber Sie bestanden dar auf, und da Ihre Frau Mutter sich ins Mittel legte, so versprach er, Ihrer Bitte zu willfahren. Als ich die Augen aufschlug, sah ich nur ihn.“
Ich hatte im vollen Ernste gesagt, ich glaubte, die gehörte Unterredung nur geträumt zu haben. Es erschien mir ja ganz unbegreiflich, daß diese Leute von mir, dem Zeitgenossen ihrer Urgroßeltern, etwas wissen sollten, was mir selbst unbekannt war. Aber als ich sah, welche Wirkung meine Worte auf Edith ausübten, wußte ich, daß ich nicht geträumt hatte. Ein neues Geheimnis mußte vorliegen, und zwar ein rätselhafteres als alle bisherigen. Denn sobald Edith merkte, worauf meine Frage hinauslief, geriet sie augenblicklich in die peinlichste Verlegenheit. Ihre Augen, die immer einen so freien und offenen Ausdruck hatten, senkten sich erschreckt vor meinem Blicke, und ein dunkles Rot ergoß sich über ihre Züge.
„Verzeihen Sie“, sagte ich, nachdem ich mich von meinem Staunen über die sonderbare Wirkung meiner Worte erholt hatte. „Es scheint also, daß ich nicht geträumt habe. Es ist ein Geheimnis vorhanden, das mich betrifft, und das Sie mir vorenthalten. Ist es nicht wirklich etwas hart, daß man jemandem in meiner Lage nicht aufs genaueste alles mitteilt, was sich auf ihn selbst bezieht?“
„Das Geheimnis betrifft nicht Sie – das heißt nicht direkt. Wirklich, es geht Sie nichts an“, erwiderte Edith kaum hörbar.
„Aber es steht doch in irgendwelchem Zusammenhang mit mir“, beharrte ich auf meiner Ansicht. „Es muß etwas sein, was mich interessieren würde.“
„Dessen bin ich nicht einmal ganz sicher“, erwiderte Edith, indem sie einen flüchtigen Blick auf mich zu werfen wagte. Tiefe Glut übergoß ihre Wangen, und ein sonderbares Lächeln verriet gleichzeitig, daß sie trotz ihrer Verlegenheit die Situation etwas komisch fand. „Ich bin nicht einmal sicher, daß es Sie auch nur interessieren wird.“
„Aber Ihr Herr Vater hätte es mir gesagt“, versetzte ich mit vorwurfsvollem Tone. „Sie waren es, die ihn daran hinderten. Er meinte, ich dürfte es wissen.“
Edith antwortete nicht. Sie war so reizend in ihrer Verwirrung, daß mich der Wunsch, die Situation zu verlängern, ebensosehr wie meine ursprüngliche Neugierde bestimmte, noch weiter in sie zu dringen.
„Soll ich es niemals erfahren? Wollen Sie es mir nie sagen?“ fragte ich.
„Das kommt darauf an“, antwortete sie nach einer langen Pause.
„Auf was kommt es an?“ drang ich weiter in sie.
„Ach, Sie fragen zu viel“, erwiderte sie. Und indem sie mir ihr Antlitz zuwendete, das mit seinen uner gründlich tiefen Augen, glühenden Wangen und lächelnden Lippen geradezu bezaubernd war, fügte sie hinzu: „Was würden Sie dazu meinen, wenn ich Ihnen sagte, daß es – auf Sie ankommt?“
„Auf mich?“ wiederholte ich, „wie ist das möglich?“
„Herr West, wir verlieren jetzt ein reizendes Musikstück“, war ihre einzige Antwort auf meine Frage. Edith ging zu dem Telephon, berührte es mit dem Finger, und die Klänge eines herrlichen Adagios erfüllten das Zimmer. Auch weiterhin sorgte Edith dafür, daß die Musik jedes Gespräch unmöglich machte. Sie hielt ihr Gesicht von mir abgewendet und gab sich den An schein, als ob sie ganz und gar in die Klänge vertieft sei. Daß dem aber in Wirklichkeit nicht so war, verriet zur Genüge die tiefe Röte, die noch immer ihre Wangen bedeckte.
Als Edith schließlich bemerkte, daß ich für diesmal wohl genug Musik gehört hätte, und wir uns erhoben, um das Zimmer zu verlassen, trat sie gerade auf mich zu. Ohne die Augen aufzuschlagen, sagte sie zu mir: „Herr West, Sie behaupten, ich sei gut gegen Sie gewesen. Ich kann das zwar nicht finden, allein wenn es Ihre Meinung ist, so, bitte, versprechen Sie mir, nicht wieder wegen der Angelegenheit in mich zu dringen, nach der Sie mich vorhin gefragt haben. Und, bitte, versuchen Sie es auch nicht, sie von jemand anders erfahren zu wollen, zum Beispiel von meinem Vater oder von meiner Mutter.“
Auf eine solche Bitte war nur eine Antwort möglich. „Verzeihen
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