Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
sind.“
„Oh, es geht uns recht gut“, erwiderte Doktor Leete. „Wir können so luxuriös leben, wie wir nur wollen. Das Drängen, es in äußerem Prunk einander vorzutun, führte in Ihren Tagen zu einem Aufwand, der keineswegs zur größeren Annehmlichkeit des Lebens beitrug. Der Anreiz dazu ist natürlich aus einer Gesellschaft verschwunden, deren Glieder alle ein gleich großes Einkommen haben. Unser Begehren gilt nur Dingen, die das Leben wirklich angenehmer machen und verschönern. Jeder einzelne von uns könnte in der Tat ein weit größeres Einkommen haben, als er jetzt bezieht, wenn wilden Überschuß des Produktionsertrags aufbrauchen wollten. Wir ziehen es jedoch vor, ihn auf öffentliche Werke und Veranstaltungen zu verwenden, die allen zugute kommen und die alle genießen können. Wir errichten davon öffentliche Gebäude, Kunstgaleri en, Brücken und Monumente, wir bauen Verkehrswege, verschönern die Städte, veranstalten große theatralische und musikalische Aufführungen und sorgen sonst noch in ausgedehntem Maße für Erholung und Unterhaltung des Volkes. Sie haben noch gar nicht gesehen, wie wir leben, Herr West. Unsere Behaglichkeit und Bequemlichkeit finden wir zu Hause, den Glanz des Daseins dagegen, an dem alle gleichen Anteil haben, den su chen wir in unserem öffentlichen, in unserem geselligen Leben. Wenn Sie erst das näher kennengelernt haben, so werden Sie begreifen, ‚wo das Geld bleibt’, wie man zu Ihrer Zeit zu sagen pflegte, und ich denke, Sie werden dann zugeben, daß wir unseren Reichtum richtig verwenden.“
Als wir von der Speisehalle heimwärts schlenderten, bemerkte Doktor Leete: „Gewiß würde kein Tadel Ihre Zeitgenossen empfindlicher getroffen haben als die Behauptung, daß sie nicht verstanden hätten, wie man Reichtum, Geld schafft, denn Ihr Jahrhundert betete das Geld an. Und doch ist es gerade dieses Urteil, das die Geschichte über sie gefällt hat. Ihre Gesellschaft unorganisierter, einander bekämpfender Wirtschaftsbetriebe war ökonomisch ebenso unsinnig wie moralisch abscheulich. Selbstsucht war ihre einzige Kunst, und im Wirtschaftsleben ist Selbstsucht Selbstmord. Konkurrenz, vom Instinkt der Selbstsucht beherrscht, ist gleichbedeutend mit Kraftzersplitterung. In der Zusammenfassung und Vereinigung aller Kräfte liegt das ganze Geheimnis eines reich ergiebigen Wirtschaftslebens. Erst wenn der Wunsch auf Vergrößerung des eigenen Vermögens dem Wunsche auf Vermehrung des Allgemeinbesitzes gewichen ist, erst dann ist auf wirtschaftlichem Gebiet ein Zusammenfassen und Zusammenwirken aller Kräfte zu einem Ziele möglich; erst dann geht die Gesellschaft daran, tatsächlich Reichtum zu schaffen. Selbst wenn das Prinzip der Gleichstellung aller nicht die einzig menschenwürdige und vernünftige Grundlage jeder Gesellschaft wäre, würden wir aus wirtschaftlichen Gründen an unserer Ordnung der Dinge festhalten. Ein harmonisches Zusammenwirken aller Kräfte in der Produktion ist nicht möglich, solange nicht der zersetzende Einfluß der Selbstsucht unterdrückt worden ist.“
23. Kapitel
Ein Geheimnis
Am Abend saß ich mit Edith im Musikzimmer und hör te einige Stücke an, die im Tagesprogramm meine Aufmerksamkeit erregt hatten. Ich benutzte eine Pause, um zu sagen: „Wenn ich nicht befürchten müßte, indiskret zu erscheinen, so möchte ich gern eine Frage an Sie richten, Fräulein Leete.“
„Das haben Sie gewiß nicht zu befürchten, bitte, fragen Sie nur“, erwiderte sie in ermutigendem Tone.
„Ich befinde mich in der Lage eines Horchers“, fuhr ich fort, „der etwas von einem Gespräch belauscht hat, das zwar offenbar nicht für ihn bestimmt war, sich aber auf ihn zu beziehen schien, und der nun unbescheiden genug ist, sich an die behorchte Person um Aufschluß zu wenden.“
„Eines Horchers!“ erwiderte Edith sichtlich erstaunt.
„Gewiß“, sagte ich, „aber eines Horchers, der mildernde Umstände geltend machen kann, wie Sie mir gewiß zugeben werden.“
„Das klingt ja recht geheimnisvoll“, versetzte Edith.
„Ganz recht, so geheimnisvoll, daß ich oft im Zweifel bin, ob ich das Gespräch wirklich gehört oder ob ich es bloß geträumt habe“, sagte ich. „Bitte, Fräulein Lee te, klären Sie mich darüber auf. Die Sache verhält sich wie folgt: Als ich aus dem hundertjährigen Schlafe erwach te, war die erste bewußte Wahrnehmung, daß verschiedene Stimmen in meiner Nähe sprachen, Stimmen, die ich nachträglich als die
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