Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Sie mir, daß ich Sie gequält habe“, sagte ich. „Selbstverständlich verspreche ich es Ihnen. Ich würde Sie überhaupt nie gefragt haben, hätte ich geahnt, daß es Ihnen peinlich sein könnte. Aber tadeln Sie mich darum, daß ich neugierig war?“
„Ich tadle Sie ganz und gar nicht“, lautete die Antwort.
„Und wenn ich Sie nicht quäle, darf ich dann nicht hoffen, daß Sie mir später einmal aus freien Stücken Aufschluß geben werden?“ fügte ich hinzu.
„Vielleicht?“ flüsterte Edith.
„Nur vielleicht?“
Zu mir emporschauend, las sie mit einem raschen, tiefen Blick in meinen Zügen. „Ja“, sagte sie, „ich den ke, daß ich es Ihnen sagen werde – später!“ Damit endete unsere Unterhaltung, denn das junge Mädchen gab mir keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen.
Nicht einmal Doktor Pillsbury hätte mich in dieser Nacht in Schlaf versenken können, wenigstens nicht vor Anbruch des Morgens. Rätsel waren nun schon seit Tagen meine gewohnte Speise. Allein keines von allen war mir so geheimnisvoll und gleichzeitig so fesselnd erschienen als jenes, dessen Lösung auch nur zu suchen Edith Leete mir verboten hatte. Es war ein zweifaches Rätsel. Wie war es zunächst denkbar, daß sie ein Geheimnis wissen konnte. das mich anging, den Fremdling aus fremder Zeit? Und weiter, selbst wenn ihr ein solches Geheimnis bekannt war, wie ließ sich die hochgradige Aufregung erklären, in die mein Fragen nach ihrem Wissen sie zu versetzen schien? Es gibt Rätsel, die so dunkel sind, daß sich ihre Lösung nicht einmal ahnen läßt. Einem solchen Rätsel schien ich gegenüberzustehen. Ich bin sonst zu praktischen Sinnes, um mit Rätselkram viel Zeit zu verlieren. Jedoch der Anreiz, dieses Rätsel zu lösen, wurde wahrhaftig dadurch nicht geringer, daß sich die Schwierigkeit der Deutung in einem schönen jungen Mädchen verkörper te. Im allgemeinen kann man zwar ruhig annehmen, daß das Erröten junger Mädchen zu allen Zeiten und bei allen Völkern den jungen Männern die nämliche Geschichte erzählt. Aber Ediths glühende Wangen derart zu deuten, das wäre die größte Albernheit gewesen*. Man bedenke meine Lage, die Kürze unserer Bekanntschaft und vor allem den Umstand, daß das Rätsel aus einer Zeit stammte, wo ich Edith überhaupt noch gar nicht gekannt hatte. Und doch war sie ein Engel, und ich hätte kein junger Mann sein müssen, wenn alle Vernunft der Welt imstande gewesen wäre, aus meinen Träumen in jener Nacht jeden Rosenschimmer zu verbannen.
24. Kapitel
Die Nationalistenpartei
In der Hoffnung, Edith allein anzutreffen, ging ich am nächsten Morgen frühzeitig hinab. Meine Erwartungen wurden jedoch enttäuscht. Da ich sie nicht im Hause fand, so suchte ich sie im Garten, aber ohne besseren Erfolg. Meine Streifereien führten mich in die Nähe des unterirdischen Gemachs, ich trat ein und ließ mich nieder, um ein wenig auszuruhen. Auf dem Schreibtisch lagen Zeitschriften und Zeitungen, und da ich dachte, daß es Doktor Leete interessieren würde, ein Bostoner Tageblatt aus dem Jahre 1887 zu sehen, so nahm ich eine solche Zeitung mit ins Haus.
Beim Frühstück traf ich mit Edith zusammen. Sie errötete, als sie mich begrüßte, war aber völlig Herrin ihrer selbst. Als wir bei Tische saßen, amüsierte sich Doktor Leete mit der Durchsicht der von mir gebrachten Zeitung. Wie bei allen Blättern jener Epoche, bezog sich ein großer Teil ihres Inhaltes auf die Arbeiterbewegung und handelte von Streiks, Aussperrungen, Boykotts, Programmen der Arbeiterparteien und von den wilden Drohungen der Anarchisten.
„Bei der Gelegenheit möchte ich fragen“, sagte ich, als der Doktor uns einige Stellen vorlas, „welchen Anteil die Anarchisten an der Neuordnung der Dinge genommen haben. Zu meiner Zeit machten sie ziemlich viel Lärm, das ist das letzte, was mir von ihnen bekannt ist.“
„Sie haben natürlich keinen anderen Anteil an ihr gehabt, als daß sie ihr hinderlich waren“, erwiderte Doktor Leete. „Solange es Anarchisten gab, haben sie das mit großem Erfolg getan. Ihr Geschwätz widerte die Leute so an, daß nicht einmal die besterwogenen Vorschläge zu sozialen Reformen Gehör fanden. Einer der schlauesten Kniffe der Gegner jeder Reform bestand darin, diese Burschen zu unterstützen.“
„Sie zu unterstützen!“ rief ich erstaunt aus.
„Gewiß“, versetzte Doktor Leete. „Kein Geschichtsforscher von Ruf zweifelt heute daran, daß die Anarchisten von den kapitalistischen
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