Ein Schlag ins Herz
war auf dem Bild die zweite Aktivistin von rechts, sie beschimpfte gerade einen Bereitschaftspolizisten, und man konnte sehen, wie die Spucke flog.
Sie warf einen Blick auf das Foto und schmunzelte. Jetzt hatte sie einen Plan, der sämtliche bisherigen Demonstrationen verblassen ließ. Und dafür konnte sie sich bei Herman bedanken.
Sie nahm eine Papierrolle vom Schreibtisch und eilte wieder nach unten. Zwar hatte sie das Gefühl, voller Energie zu sein, doch die Begegnung mit Patrik ging ihr noch nach. Der Anwalt hatte recht gehabt, es war dumm gewesen, Patrik zu provozieren.
Vor ihrem inneren Auge blitzte die Erinnerung an die blutende Deutsche in seinen Armen auf.
Beate.
Eine unangenehme Mischung aus Gefühlen quälte Sandrine. Eifersucht, berufliches Versagen, sogar Scham. Sie hatte Patrik zum ersten Mal getroffen, als er einen seiner Kunden, den kanadischen Manager eines multinationalen Bergwerkskonzerns, wegen eines Schlangenbisses in ihre Klinik brachte. Sandrine hatte dem wortkargen, kantigen finnischen Security Contractor Anweisungen für die weitere Versorgung zu Hause gegeben, und am nächsten Tag war Patrik wiedergekommen, ohne jeden Vorwand, nur um sie zu sehen.
Es waren seine Widersprüchlichkeiten gewesen, die sie angezogen hatten: auf der einen Seite Zielstrebigkeit, auf der anderen Seite eine gewisse Neigung, sich treiben zu lassen; er konnte impulsiv sein, dann aber auch wieder sehr überlegt handeln, so wie er einerseits offen und andererseits verschlossen sein konnte. Nie war es ihr gelungen, ihm richtig nahezukommen. Was sie faszinierte, war die Frage, was einen Geologen dazu gebracht hatte, das zu werden, was man Security Contractor nannte, also praktisch Söldner.
»Tolles Haus«, sagte Herman. Er stand in der hohen Eingangshalle, in die das Licht durch die kleinen Scheiben eines Dachfensters fiel.
»Ich bin mit siebzehn abgehauen und habe die Tür hinter mir zugeschlagen, aber seit ich mit dem Studium fertig bin, quartiere ich mich hier wieder ein, wenn ich in Belgien bin.«
Sie gingen in den vier Meter hohen Saal, der im Stil vergangener Zeiten eingerichtet war: schwere, reich verzierte Möbel, an der Decke ein großer Kronleuchter. Nur die eingerahmten Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden warenmodern. Die meisten zeigten Landschaften, Tiere und Menschen in Afrika. Ein Bild war älter als die anderen.
»Schwarzer Marmor«, sagte Herman mit Blick auf den glänzenden Boden. »Aus dem Osten des Kongo. Das ist wohl kein Zufall?«
Sandrine schwieg einen Moment und sah Herman eindringlich in die Augen. »Mein Großvater hat dieses Haus mit den Gewinnen gebaut, die sein Vater in Belgisch Kongo abschöpfte. Elfenbein, Gummi, Metalle. Gnadenlose Ausbeutung und Abschlachterei. An jedem Stein dieses Hauses klebt kongolesisches Blut.«
Herman nickte schweigend.
»Mein Vater wurde im Kongo geboren, so wie viele Belgier Anfang der Fünfzigerjahre«, fuhr Sandrine fort. »Aber ich will nicht von meinen Eltern sprechen.«
Sie breitete die Papierrolle auf einem großen Tisch aus Edelholz aus. »Das hier habe ich heute besorgt.«
Endlich.
Patrik sah, wie die Haustür sich öffnete und Herman mit einer Papierrolle unter dem Arm die Eingangstreppe hinunterging. Auf dem Weg zu seinem Wagen wählte der Amerikaner eine Nummer auf seinem Handy.
»Die Frau ist begeistert und ahnt nichts«, hörte Patrik ihn ins Telefon sagen. »Sie hat die Grundrisszeichnungen besorgt, die habe ich jetzt.«
Herman stieg in den Wagen und schloss die Tür.
Patrik dachte eine Sekunde nach, dann ging er auf das Auto zu. Als Herman den Motor anließ, öffnete Patrik die Beifahrertür und stieg ein.
»He, was soll das …« Herman schien instinktiv auf den Eindringling losgehen zu wollen – bis er ihn erkannte. »Patrik! Was machst du denn hier?«
»Das wollte ich dich fragen.«
8
»Nachricht aus Tallinn«, sagte Timo Nortamo an der Tür zu Åsa Björklunds Büro und hielt das Foto hoch, das er kurz zuvor ausgedruckt hatte.
Åsa, die am Computer saß, legte ihren angebissenen Apfel auf den Tisch und sah Timo mit verführerisch neugierigen Augen an.
Er reichte ihr das Bild, das von einer Überwachungskamera stammte. Man konnte darauf einen Geländewagen mit Bootsanhänger beim Tanken sehen. Das Schlauchboot auf dem Trailer war mit einer Plane zugedeckt.
»Die Aufnahme stammt von einer Statoil-Tankstelle in Keila, in Nordestland«, sagte Timo. »Form und Größe des Schlauchboots stimmen mit dem Typ überein,
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