Ein Schlag ins Herz
die sich in der Ferne abzeichneten, vergaß er die Trauer für einen Moment. Mit vor Kälte klammen Fingern griff er nach dem Fernglas. Im Okular war das erleuchtete Objekt deutlich zu erkennen.
Da war es.
Er gab den anderen drei offenen RI B-Booten , die zu dem Geschwader gehörten, ein Handzeichen. Die Boote hatten als Besatzung je zwei oder drei Mann in orangen Overalls. Am Heck eines jeden Bootes flatterte eine orange Fahne.
Patrik warf einen kurzen Blick auf Andrus, dessen Gesicht mit dem exakt getrimmten Bart an einen leidenschaftlichenKomponisten aus fernen Zeiten oder an einen Redner, der ganz und gar für seine Überzeugungen lebte, erinnerte. Jetzt schien Andrus noch stärker bedingungslose Hingabe auszustrahlen. Er hatte erzählt, er habe an der Universität Tallinn politische Geschichte und Philosophie studiert, japanische Kampfsportarten betrieben, sei dann mit einem Stipendium an die Universität Heidelberg gewechselt, dort politisch radikal geworden und schließlich in den Untergrund gegangen.
Viel mehr wusste Patrik nicht über ihn. Aber Andrus und die anderen Mitglieder der Gruppe waren Freunde von Beate gewesen, er war ihnen ein paarmal in Deutschland begegnet, vor der fatalen Reise nach Afrika. Das genügte ihm. Die Gruppe hatte ihn aufgenommen, und er hatte beschlossen, den Männern zu beweisen, dass er ihr Vertrauen wert war. Genauer gesagt, dass er Beates Vertrauen verdient hatte, denn das war wohl sein eigentlicher Gedanke.
Er schaute wieder durchs Fernglas. Immer deutlicher sah man das große, kantige Schiff. Es erinnerte an ein mechanisches Seeungeheuer, das auf dem Wasser stand und Lichtpunkte auf die graue Meeresoberfläche warf. Der rote Kran auf dem Deck des Schiffes hob gerade eine große Metallröhre in die Höhe. Patrik ließ den Blick langsam über den Rumpf dieser Kombination aus Bohrinsel und Riesentanker gleiten, bis er am Heck angekommen war, wo mit Hilfe eines gewaltigen Greifarms eine lange Metallröhre im Wasser versenkt wurde. Die Gaspipeline, die am Grund des Finnischen Meerbusens von der russischen Küste nach Deutschland führen sollte, wurde in fieberhaftem Tempo verlegt.
Plötzlich schob sich ein graues Gebilde bedrohlich hinter dem Schiff hervor.
»Mach langsam«, rief Patrik Andrus zu. »Die haben ein Marineschiff dabei!«
Patrik erkannte den Typus: ein russisches Kriegsschiff mit Kanonen, eskortiert von drei stark bewaffneten Patrouillenbooten.
Auf der Korvette der Albatros-Klasse, die zur russischen Ostseeflotte gehörte, blickte ein Marineoffizier mit ernstem Gesicht vom Radarschirm auf und sah aus dem Fenster der Kommandobrücke. Zwischen den zum Himmel gerichteten Kanonenrohren hindurch konnte er weit draußen kleine, bunte Punkte übers Meer sausen sehen. Er hob das Fernglas.
Im Schneeregen erkannte er vier graue Schlauchboote, die über die hohen Wellen hüpften, besetzt mit Menschen in orangen Overalls.
Der Offizier setzte das Fernglas ab, fluchte und nahm das Funkgerät in die Hand.
»
Budte gotovy
«, befahl er.
Patriks Herz pochte, als er sah, wie das russische Kriegsschiff Kurs auf sie nahm.
Er richtete den Blick auf Andrus, der am Steuerpult saß, und auf dessen litauischen Freund Konstantins, der konzentriert aufs Meer schaute und dabei mit den Fingern, die aus seinen schwarzen, abgeschnittenen Handschuhen ragten, nach Pistazien in der Jackentasche tastete. Der Litauer war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Andrus und in der Gruppe auch sonst gewissermaßen fehl am Platz: Seine Kleidung war verschlissen, und er legte grobes Benehmen an den Tag, las Comics mit schwarzem Humor und trug ständig T-Shirts mit stillosen Aufschriften. Es war schwer, ihn sich ausgerechnet als Umweltaktivisten vorzustellen, aber nach dem, was er erzählte, hatte er schon zahlreiche Anarchistenkreise in ganz Europa besucht.
Konstantins hatte die Finger bereits auf der Tastatur des Funkgeräts. Wieder fielen Patrik die Tätowierungen auf den Fingern des Litauers auf. Er hatte ihn nach der Bedeutung der fünf Symbole gefragt, und Konstantins hatte mit einem einzigen Wort geantwortet: Bruderschaft. Jetzt zog Andrus den Gashebel an, und gleich darauf beschleunigte ein Boot nach dem anderen noch stärker. Das Wasser spritzte hoch auf, wie sie so Seite an Seite dahinrasten, die orangefarbenen Fahnen knatterten.
Bestürzt beobachtete der Kommandeur der Korvette die vier näher kommenden Schlauchboote.
»
Polnaja bojegotovnost
«, wies er den neben
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