Ein Schritt ins Leere
tun. Man kann den armen Teufel doch nicht mutterseelenallein da liegen lassen.»
Bobby Jones kletterte bereits mit der Behändigkeit einer Gämse den Hang empor. Oben angekommen, winkte er rasch noch einmal mit der Hand und raste dann davon. Um Zeit zu gewinnen, sprang er über die Kirchhofsmauer, anstatt bis vorn zum Tor zu gehen – ein Verfahren, das der Pfarrer vom Sakristeifenster aus beobachtete und in höchstem Maße missbilligte.
Es war fünf Minuten nach sechs, aber die Glocke läutete noch.
Erklärungen und Vorhaltungen würden bis nach dem Gottesdienst aufgeschoben. Atemlos sank Bobby auf seinen Sitz, und in einer begreiflichen Ideenverbindung begannen seine Finger, Chopins Trauermarsch zu spielen. Hinterher nahm Pfarrer Jones seinen Sohn ins Gebet. Mehr aus Sorge als aus Ärger, wie er betonte.
«Wenn du eine Sache nicht richtig erledigen kannst, mein lieber Bobby», sagte er, «ist es besser, dich überhaupt nicht mit ihr zu befassen. Ich weiß, dass du wie all deine jungen Freunde keinen Begriff von Zeit hast, aber den Einen über uns sollten wir nicht warten lassen. Aus eigenem Antrieb hast du dich erboten, die Orgel zu spielen. Ich habe es dir weder nahe gelegt noch dich gezwungen. Doch schwach und wankelmütig zogst du das Golfspiel…»
Bobby hielt es für ratsamer, seinen Vater zu unterbrechen, noch ehe dieser sich allzu sehr ereifert hatte.
«Tut mir leid, Vater.» Er sprach fröhlich und flott, wie es seine Art war, gleichgültig, um was es sich handeln mochte. «Nicht meine Schuld diesmal. Ich hielt Wache bei einer Leiche.»
«Wie… wie?»
«Jawohl: Ich hielt Wache bei einem Unglückswurm, der über die Klippe hinausschritt. Weißt du, dort, wo beim siebzehnten Abschlagplatz der Einschnitt ist. Die See schickte überflüssigerweise ein bisschen Nebelschwaden herauf, und da muss er geradeaus gegangen und kopfüber hinuntergepurzelt sein.»
«Barmherziger!», entsetzte sich der Geistliche. «Was für eine Tragödie! War der Mann auf der Stelle tot?»
«Nein. Bewusstlos. Er starb, nachdem Dr. Thomas sich entfernt hatte. Du siehst doch ein, Vater, dass ich mich da nicht einfach verdrücken konnte. Zufällig kam dann ein anderer Fremder vorbei, an den ich die Rolle des ersten Leidtragenden abtreten konnte.»
Pfarrer Jones seufzte.
«O mein lieber Bobby, wird denn nichts deine beklagenswerte Hartherzigkeit erschüttern? Es schmerzt mich mehr, als ich sagen kann! Da hast du nun einen Tod erlebt – einen jähen Tod, und du vermagst darüber zu scherzen! Für deine Generation ist alles, alles, auch das Ehrwürdigste, ja Heiligste, nur ein Scherz!»
Der Gescholtene blickte auf seine Fußspitzen hinab. Was half alles Reden, wenn der Vater nicht fühlte, wie sehr ihn der Vorfall mitgenommen hatte? Stellt man mit einem Scherz nicht am leichtesten das seelische Gleichgewicht wieder her…? Aber was konnte man von Leuten über fünfzig erwarten? Sie waren eben verbohrt und schrullig. Ich glaube, das kommt vom Krieg, dachte Bobby loyal, der hat sie ganz aus der Fassung gebracht, und sie werden niemals wieder normal.
«Tut mir leid, Vater», sagte er.
Der Pfarrer blickte seinen Sprössling bekümmert an. Dem Jungen fehlte jeder Begriff vom Ernst des Lebens. Sogar seine Entschuldigung klang lustig und verstockt. Gemeinsam schritten sie zum Pfarrhaus hinüber, und jeder von ihnen machte enorme Anstrengungen, um Milderungsgründe für den anderen zu finden.
Der Pfarrer dachte: Ich möchte wissen, wann Bobby endlich eine Beschäftigung finden wird…
Und Bobby dachte: Möchte wissen, wie lange ich hier noch rumhängen muss…
Des ungeachtet waren sich die beiden von Herzen zugetan.
3
D ie sofortigen Folgen seines Abenteuers sah Bobby nicht. Am nächsten Morgen fuhr er in die Stadt, um sich mit einem Freund zu treffen, der eine Garage zu eröffnen gedachte und sich von Bobbys Mitarbeit viel Gutes versprach.
Nachdem die Angelegenheit zur beiderseitigen Zufriedenheit erledigt war, erreichte Bobby zwei Tage später zur Heimfahrt gerade noch den 11-Uhr-30-Zug. Mit knapper Not erwischte er ihn. Er kam in Paddington an, als die Bahnhofsuhr 11 Uhr 28 zeigte, jagte zum Fahrkartenschalter, dann auf den Bahnsteig, wo sich der Zug gerade in Bewegung setzte, und stürzte auf den ersten besten Wagen los, ohne auf die entrüsteten Schaffner und Dienstmänner in seiner nächsten Nähe zu achten.
Die Tür aufreißend, half er sich mit Händen und Füßen hinein, richtete sich empor, während hinter ihm
Weitere Kostenlose Bücher