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Ein Schritt ins Leere

Ein Schritt ins Leere

Titel: Ein Schritt ins Leere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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nun merkte er, dass er mit dem Taschentuch noch etwas anderes aus der Tasche des Toten gezerrt hatte – eine Fotografie.
    Es war das Bild einer jungen Frau mit großen Augen und einem Gesicht, dessen eigenartige Schönheit man so leicht nicht vergaß. Behutsam und ehrerbietig steckte Bobby das Bild wieder in die Tasche zurück und setzte sich, um auf des Doktors Rückkehr zu warten.
    Die Zeit verstrich sehr langsam – so schien es wenigstens dem wartenden jungen Mann. Überdies war ihm gerade etwas eingefallen. Er hatte seinem Vater versprochen, beim Abendgottesdienst um sechs die Orgel zu spielen, und jetzt wiesen die Uhrzeiger auf zehn Minuten vor sechs. Sein Vater würde natürlich den Umständen Verständnis entgegenbringen; nichtsdestoweniger wäre es besser gewesen, ihm durch Dr. Thomas Bescheid geben zu lassen. Pfarrer William Jones besaß ein hochgradig nervöses Temperament. Um nichts und wieder nichts regte er sich auf, und jede Aufregung schlug ihm auf die Verdauungsorgane und bereitete ihm große Schmerzen. Obwohl Bobby seinen Vater für einen kläglichen alten Esel hielt, liebte er ihn dennoch von Herzen. Andererseits hielt der ehrwürdige Pfarrer seinen vierten Sohn für einen kläglichen jungen Esel, und weniger duldsam als Bobby, versuchte er den jungen Mann zu bessern.
    Der arme alte Herr!, dachte Bobby. Er wird auf und ab rennen, wird nicht wissen, ob er mit dem Gottesdienst beginnen soll oder nicht, und sich erbosen, bis der dämliche Bauch zu schmerzen beginnt und der Appetit fürs Abendessen futsch ist. Er hat ja nicht genügend Vernunft, um sich zu sagen, dass für mein Fernbleiben zwingende Gründe vorliegen müssen.
    Und was kommt es schließlich überhaupt darauf an…? Aber zu diesem Standpunkt wird er sich nie durchringen! Die Leute über fünfzig haben durchweg keine Vernunft; wegen lauter Nichtigkeiten grämen sie sich zu Tode. Vermutlich hat’s bei ihrer Erziehung gehapert, und nun können sie aus ihrer Haut nicht mehr heraus. Armer Alter – ein Küken hat mehr Vernunft als er!
    Mit einem Gemisch von Liebe und Erbitterung dachte er an seinen Vater, und das Leben daheim dünkte ihn ein langes Opfer, das er den eigentümlichen väterlichen Ideen brachte.
    Pfarrer Jones hingegen wähnte, dass er ein langes Opfer brächte, schlecht verstanden und gewürdigt von der jüngeren Generation. Man ersieht daraus, dass die Ansichten über dasselbe Thema sehr voneinander abweichen können…
    Wie lange der Doktor fortblieb!
    Bobby Jones erhob sich und trat verdrossen von einem Fuß auf den anderen. In diesem Moment hörte er über sich ein Geräusch und blickte voll Dankbarkeit, dass seine Dienste nun nicht länger benötigt würden, empor.
    Aber es war nicht der Doktor, sondern ein Mann in kurzen Sporthosen, den Bobby nicht kannte.
    «Was ist passiert?», rief der Neuankömmling herunter. «Doch nicht etwa ein Unglücksfall? Kann ich irgendwie behilflich sein?»
    Die schnell hereinbrechende Dunkelheit hinderte Bobby, den Fremden deutlich zu sehen, aber seine Stimme klang sympathisch.
    «Also kann ich etwas tun?», fragte er, nachdem Bobby kurz Bericht erstattet hatte.
    «Wenn Sie vielleicht so freundlich sein würden… ich habe nämlich für sechs eine Verabredung und…»
    «… möchten sie nicht gern versäumen», fiel der Fremde ein. «Ich verstehe. Passen Sie auf: Ich werde hinunterkommen, das heißt, sofern meine Geschicklichkeit ausreicht! – und bei dem armen Kerl bleiben. Es kann ja nicht ewig dauern, bis Ihr Doktor mit Hilfe zurückkehrt.»
    «Wirklich? Wollen Sie mich ablösen?», sagte Bobby Jones erfreut. «Es ist nämlich mein Vater, der auf mich wartet, und er gerät leicht aus dem Häuschen. Halten Sie sich ein bisschen nach rechts… jetzt nach links… so!»
    Er ermutigte den anderen durch Anweisungen, und schließlich standen sich die beiden auf dem schmalen Plateau gegenüber. Der Fremde, der ungefähr fünfunddreißig Jahre zählen mochte, hatte ein ziemlich unentschlossenes Gesicht, das nach einem Monokel oder einem kleinen Schnurrbart zu lechzen schien.
    «Bassington-ffrench ist mein Name», stellte er sich vor. «Ich wohne nicht hier, kam zufällig her wegen eines Hauses. Trostlose Affäre, was? Abgestürzt?»
    Bobby nickte. «Im Nebel ist der Pfad ein bisschen gefährlich», erläuterte er. «Aber ich muss mich jetzt sputen. Nochmals besten Dank für Ihre Freundlichkeit! Es ist wirklich furchtbar nett von Ihnen.»
    «Nicht der Rede wert! Jeder andere würde das Gleiche

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