Ein Schritt ins Leere
Hinter einem Fichtengürtel erkannte sie die Umrisse des Hauses. Mutig ging sie weiter und blieb, eng an einen Stamm gedrückt, stehen, als das Gebäude vollständig sichtbar wurde. Und während ihr Herz ein wenig schneller schlug, ahmte sie täuschend ähnlich den Ruf einer Eule nach. Ein paar Minuten verstrichen, und nichts ereignete sich. Sie wiederholte den Ruf.
Da öffnete sich die Haustür, und sie sah eine Gestalt in Chauffeurslivree vorsichtig herauslugen. Bobby! Er winkte und zog sich wieder in das dunkle Innere zurück, die Tür angelehnt lassend.
Frankie löste sich von ihrem Baum. Nicht ein einziges Fenster war erleuchtet. Ringsum Dunkel und Stille. Vorsichtig tastete sie sich über die Schwelle, hinein in das Pechschwarz der Diele.
«Bobby?», wisperte sie.
Ihre Nase war es, die sich warnend meldete. Woher kannte sie diesen Geruch – diesen schweren, süßlichen Geruch?
Just als ihr Hirn die Antwort «Chloroform!», gab, packten sie von hinten starke Arme. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, und ein nasser Wattebausch legte sich darüber. Der süße, widerliche Geruch strömte in ihre Nase.
Verzweifelt wehrte sie sich, um sich schlagend und tretend, sich windend und drehend. Aber es half nichts. Sie fühlte, wie sie unterlag. In ihren Ohren begann es zu trommeln, ihre Kehle rang nach Luft.
Und dann wusste sie nichts mehr…
28
D ie Nachwirkungen von Chloroform sind alles andere als romantisch.
Als Frankie wieder zu sich kam, lag sie auf einem harten Holzboden, an Händen und Füßen gefesselt. Es gelang ihr, sich auf den Bauch zu wälzen, wobei ihr Kopf unliebsame Bekanntschaft mit der Kante eines verbeulten Kohlenkastens machte. Und nun folgten die Nöte, die fast keinem Chloroformierten erspart bleiben. Nach etlichen Minuten war sie imstande – wenn auch nicht aufrecht zu sitzen – so doch Umschau zu halten. Offenbar befand sie sich in einem Bodenraum. Das einzige Licht – ein blasser Schimmer nur – kam von einem großen Dachfenster. In wenigen Minuten würde es stockfinster sein. Ein paar kaputte Bilder lehnten an der Wand. An einer anderen stand ein eisernes Bett. Ferner gewahrte sie noch ein paar zerbrochene Stühle und den schon erwähnten Kohlenkasten.
Aus einer Ecke drang ein schwaches Stöhnen.
Frankies Fesseln, nicht ganz stramm anliegend, gestatteten ein mühseliges, krebsartiges Fortbewegen, und wie ein Wurm wand sie sich über die staubigen Holzdielen.
«Bobby!», rief sie.
Ja, es war Bobby, ebenfalls an Händen und Füßen gefesselt. Hiermit nicht genug, trug er auch noch eine Stoffbandage über dem Mund.
Ein wenig hatte er diese bereits gelockert, und Frankies Finger und Zähne vollendeten das Werk.
«Frankie!», ächzte der Pfarrerssohn.
«Ich bin froh, dass wir zusammen sind. Wie hat man dich erwischt? Nachdem du mir den Brief geschrieben hattest?»
«Brief? Ich habe dir überhaupt keinen Brief geschrieben. Höre, wie es mir erging, und hinterher habe die Güte, mir dein Missgeschick anzuvertrauen!»
Er beschrieb ihr sein Abenteuer im Birkenhof und dessen verhängnisvollen Abschluss.
«Als ich wieder zu mir kam, steckte ich in diesem grässlichen Loch hier», sagte er. «Auf einem Tablett entdeckte ich Speis und Trank. Und da mir der Magen knurrte, griff ich zu. Ich glaube, es war irgendein Betäubungsmittel drin, denn ich schlief sofort danach ein. Was ist denn heute für ein Tag?»
«Freitag.»
«Und am Dienstagabend wurde ich niedergeschlagen. Verdammt, da bin ich ja tagelang bewusstlos gewesen. Nun berichte, wie sie dich hierher lockten.»
Frankie begann mit den Informationen, die sie von Mr Spragge erhalten hatte, und schilderte dann alles Weitere, ihre Reise, ihre Ankunft, die Gestalt in Chauffeurslivree. «Und dann chloroformierten sie mich», schloss sie. «O Bobby, mir war ja so übel vorhin! Gut, dass der Kohlenkasten in erreichbarer Nähe stand…! Wenn ich nur Roger den Inhalt deines Briefes oder vielmehr des angeblich von dir stammenden Briefes mitgeteilt hätte!», klagte sie.
«Jammern hilft nichts. Wir müssen uns aus eigener Kraft retten. Deine Hände sind anscheinend lockerer gefesselt als meine. Lass mich versuchen, ob ich sie mit meinen Zähnen ganz befreien kann.»
Während der nächsten fünf Minuten plagte sich Bobbys gesundes Gebiss redlich ab.
«Wie leicht das in den Büchern immer bewerkstelligt wird!», keuchte er. «Ich glaube, es hat nicht geholfen.»
«Doch, doch», versicherte Frankie. «Ich fühle, dass sich die
Weitere Kostenlose Bücher