Ein Schritt ins Leere
Stricke gelockert haben… Still! Da kommt jemand!»
Sie wälzte sich von ihm fort. Die Treppe knarrte unter einem schweren Schritt. Ein Lichtstreifen erschien unter der Tür. Dann knirschte ein Schlüssel im Schloss, und die Tür drehte sich langsam in ihren Angeln.
«Na, wie geht es meinen beiden kleinen Vögeln?», fragte die Stimme Dr. Nicholsons.
Er trug eine Kerze in der Hand, und obwohl er seinen Hut tief in die Stirn gezogen hatte und der hochgeschlagene Mantelkragen den unteren Teil des Gesichtes verbarg, würde die Stimme ihn überall verraten haben. Hinter den dicken Brillengläsern funkelten die Augen gehässig auf die Gefangenen herab.
«Es ist Ihrer unwürdig, junge Dame, so leicht in die Falle zu gehen», sagte er.
Weder Bobby noch Frankie würdigten ihn einer Antwort. Was sollten sie auch schon erwidern in einer Situation wie dieser?
Dr. Nicholson stellte die Kerze auf einen Stuhl.
«Sie gestatten wohl, dass ich mich vergewissere, dass es Ihnen auch an keiner Bequemlichkeit mangelt?», höhnte er. Er prüfte Bobbys Fesseln, nickte zufrieden und ging zu Frankie hinüber.
«Ah, die Zähne Ihres jungen Freundes haben sich betätigt…! Nun, da wollen wir Vorsorge treffen, dass es nicht wieder geschieht.»
Mit diesen Worten zog er Frankie hoch und setzte sie auf einen schweren, alten Eichenstuhl, der in einer Ecke stand.
«Sehr unbehaglich?», forschte er, während er sie an der Lehne festschnürte. «Keine Angst, es wird nicht mehr lange dauern.»
«Was haben Sie mit uns vor?», fauchte Frankie ihn an.
Nicholson ergriff die Kerze und ging zur Tür.
«Sie haben gespottet, Lady Frances, dass ich Unfälle allzu sehr liebte. Vielleicht ist das wahr. Jedenfalls werde ich einen weiteren Unfall riskieren.»
«Was meinen Sie damit?», warf jetzt Bobby ein.
«Soll ich es Ihnen erklären…? Meinetwegen! Lady Frances Derwent – ihren Chauffeur neben sich – irrt sich bei einer Straßenabzweigung und biegt mit ihrem Wagen in einen nicht mehr befahrbaren Weg ein, der zu einem Steinbruch führt. Der Wagen saust in die Tiefe hinab. Lady Frances und ihr Chauffeur werden getötet.»
«Pläne misslingen bisweilen», sagte Bobby Jones nach einer kleinen Pause. «Auch Ihrer in Wales misslang zum Beispiel.»
«Ihre Widerstandsfähigkeit gegen Morphium war gewiss bedauerlich – von unserem Standpunkt aus. Aber diesmal brauchen Sie sich meinetwegen nicht zu sorgen. Sie und Lady Frances werden schon ganz tot sein, wenn man Ihre Körper entdeckt.»
Bobby fühlte einen eisigen Schauer über seinen Rücken rieseln. Ein seltsamer Klang hatte in Nicholsons Stimme gelegen – der Klang eines Künstlers, der ein Meisterwerk betrachtet.
Wir wollen ihm seine Freude verderben, dachte Bobby. Und in gleichgültigem Ton meinte er:
«Ihnen ist ein Fehler unterlaufen, Dr. Nicholson – besonders in Bezug auf Lady Frances.»
«Ja», fiel diese ein. «In jenem gefälschten Brief legten Sie mir dringend ans Herz, niemanden einzuweihen. Ich machte eine Ausnahme; ich zog nämlich Roger Bassington-ffrench ins Vertrauen. Er weiß alles über Sie. Wenn uns etwas zustößt, weiß er daher auch, wo er den Schuldigen zu suchen hat. Sie täten besser daran, uns frei zu lassen und selbst so rasch wie möglich England den Rücken zu kehren.»
Nicholson schwieg einen Moment. Dann brummte er: «Ein guter Bluff – aber mich können Sie nicht täuschen.»
«Und Ihre Frau, Sie Schwein?», schrie Bobby, außer sich vor Wut. «Haben Sie sie auch ermordet?»
«Moira lebt. Wie lange allerdings noch, hängt von den Umständen ab.» Er machte eine kleine spöttische Verbeugung. «Auf Wiedersehen, meine Lieben. Ich benötige für die letzten Vorbereitungen noch ein paar Stunden. In der Zwischenzeit können Sie sich unterhalten. Solange es sich nicht als nötig erweist, will ich Ihnen einen Knebel ersparen. Verstehen Sie? Aber bei dem kleinsten Hilferuf werde ich zurückkehren und Sie zum Schweigen bringen.»
Er verließ die Kammer und schloss wieder hinter sich ab.
«Es ist nicht wahr», sagte Bobby Jones. «Es kann nicht wahr sein. So etwas geschieht in England nicht!»
Aber auch diese Versicherungen verscheuchten nicht die Überzeugung, dass es um ihn und Frankie schlecht stand.
«In Büchern erscheint der Retter immer in der elften Stunde», ließ Frankie sich vernehmen. «Oh, hätte ich doch nur Roger eingeweiht!», jammerte sie plötzlich auf.
«Vielleicht hat Nicholson dir deine Lüge geglaubt.»
«Nein, Bobby. Nein. Hast du
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