Ein schwarzer Vogel
Studieren und Arbeiten
kennt sie nichts. Sie behauptet, es sei ihre Pflicht, ihr Talent zu entwickeln.
Aber was sind denn Talente, wenn man kein Herz hat und keine Zuneigung kennt?
Erfolgreich sein, ohne Freunde zu haben, ist das gleiche, als wenn man die
Sahara besitzt. Man hat das ganze Land, aber nicht einen einzigen lebenden
Menschen. Was nützt dieser Besitz? Wer wollte schon eine Wüste haben?«
»In Palm Springs hat man
beispielsweise eine ganz hübsche Oase daraus gemacht.«
»Sie scherzen«, erwiderte sie
leicht eingeschnappt.
»Natürlich macht er Witze,
Juanita«, sagte Shirley. »So sind wir hier im Norden nun einmal. Scherze haben
wir immer im Kopf, um mit dem Ernst des Lebens besser fertig werden zu können.
Mr. Lam versteht dich schon. Noch etwas Tee, Donald? Zucker oder Sahne? Oh...«
Das Sahnekännchen entglitt ihrer
Hand, stieß an die Tischkante und zerbrach auf dem Boden. »Schnell, Juanita,
einen Lappen, wisch das weg.«
Juanita Grafton sprang auf und
lief in die Küche.
»Und einen anderen Sahnetopf«,
rief Shirley ihr nach. »Es tut mir leid, Donald«, wandte sie sich an mich.
»Es ist nicht nötig, daß Sie
sich entschuldigen. Sie taten es doch absichtlich.«
Sie schenkte mir ein
vertrauliches Verschwörerlächeln, als wollte sie sagen: »Wir haben gemeinsam
ein Geheimnis. Vor Ihnen kann ich wohl nichts verbergen, Donald?«
Ich reagierte nicht darauf.
»Ich habe noch eine weitere
Bitte an Sie.«
Sie senkte die Stimme und
sprach hastig weiter: »Es kann sein, daß Robert Cameron Tresorfächer gemietet
hatte. Vielleicht gar nicht unter seinem Namen. Halten Sie es für möglich, daß
man die verschiedenen Banken beobachten lassen kann und...«
Juanita kam mit einem Tuch
wieder, wischte die Sahne weg und hob die Scherben auf.
»Bringe auch neue Sahne für Mr.
Lam«, sagte Shirley.
Sie wartete, bis Juanita wieder
in der Küche war. »Ich glaube, Robert Cameron hatte verschiedene Stahlfächer
gemietet.«
»Hat er darin Teile Ihres Erbes
aufbewahrt?«
»Ich weiß es noch nicht, aber
ich möchte gern dahinterkommen. Sie werden verstehen, daß es mich brennend
interessiert.«
»Um das zu erfahren, benötigen
Sie keinen Privatdetektiv. Wenn jemand stirbt, zieht der Staat
Erbschaftssteuern ein. Stahlfächer können benutzt werden, um dem Staat einen
Teil dieser Steuern zu entziehen. Das liebt der Staat nicht, und darum hat er
eine Menge Gesetze und Bestimmungen erlassen, was alles zu geschehen hat, wenn
Leute Wertobjekte oder irgendwelche Sachen in Stahlfächern hinterlegen. Und der
Staat nimmt es dabei sehr genau.«
»Wollen Sie sich über mich
lustig machen?«
»Keineswegs. Ich erkläre Ihnen
nur, daß Sie sich wegen Camerons Tresorfächern keine Sorgen zu machen
brauchen.«
Sie beugte sich zu mir. »Wollen
Sie Onkel Harrys Schutz übernehmen?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube
kaum.«
»Warum nicht?«
»Weil ich anderes zu tun habe.«
»Was denn?«
»Ich habe andere Aufträge.«
»Aber ich bin bereit, Sie gut
zu bezahlen. Und er wird Sie auch gut honorieren.«
»Davon bin ich überzeugt, aber
ich werde kaum Zeit dafür haben.«
»Sie wollen also nicht?«
Juanita rief aus der Küche, daß
nur noch ein kleiner Rest Sahne da sei.
»Dann fülle sie doch in einen
kleinen Gießer und bringe sie herein«, antwortete Shirley nervös.
»Ist Mrs. Grafton bei Ihnen
angestellt?«
»Lieber Himmel, nein! Sie ist
meine Freundin. Manchmal wird sie unerträglich.«
Auf mein erstauntes »So?« fuhr
sie hastig fort: »Sie verstehen hoffentlich, wie ich das meine. Soviel ich
weiß, arbeitet sie als Dienstmädchen, wenn sie sich in Südamerika aufhält, und
das nutze ich irgendwie aus. Da sie schon älter ist, glaube ich, daß sie gern
für andere Leute sorgt. Sie sehnt sich danach, mit Menschen zu sprechen, die
sie verstehen. Mit ihrer Tochter versteht sie sich nicht gut. Ich glaube zwar,
daß es hauptsächlich Juanitas Schuld ist, aber ganz unschuldig ist ihre Tochter
auch nicht. Dona ist völlig von ihrem Studium in Anspruch genommen, daß sie nicht
die geringste Zeit für ihre Mutter hat, und das tut Juanita sehr weh. Man muß
die Südamerikaner näher kennen, um zu verstehen, was das bedeutet. In Juanitas
Leben stehen ihre Familie und ihre Freunde an erster Stelle. Erst dann kommt
die materielle Seite. Aber sie langweilt mich zeitweise mit ihren stets
gleichbleibenden Problemen. Dennoch habe ich sie sehr gern, und ich würde viel,
ja sogar sehr viel für sie tun.«
Juanita brachte einen
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