Ein schwarzer Vogel
ein.
Juanita Grafton zeigte nicht
die geringste Spur von Schwäche oder gar Kranksein. Sie bemühte sich mit
zärtlicher Aufmerksamkeit um Shirley und schien jetzt bereit, sich mit mir als
einem der Hausfreunde Shirleys abzufinden. Shirley saß dicht neben mir. Hin und
wieder blickte sie mich lächelnd an. Ihr Anblick war wirklich eine Augenweide...
mehr als das.
Von ihr ging eine verlockende
Wärme aus, die deutlich erkennen ließ, daß eine gehörige Dosis Sinnlichkeit
entscheidender Bestandteil ihres Wesens war. Mit Shirley Bruce eine platonische
Freundschaft zu pflegen, schien ebenso absurd, als wenn man einen Rennwagen
ständig mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Kilometern fahren wollte. Sie war
nun einmal so veranlagt und konnte sich nicht beherrschen.
Juanita Grafton wartete auf den
geeigneten Moment, um mich zu fragen: »Sie müssen mich für eine Rabenmutter
halten?«
»Warum eigentlich?«
»Weil ich behauptet habe, daß
meine Tochter mich vergiften wollte.«
»Das geht mich doch nichts an.«
»Nein, nein«, sagte sie
ernsthaft, »das sagen Sie nur aus Höflichkeit. Ich lege aber Wert darauf, daß
Sie mich richtig verstehen.«
»Laß das doch, Juanita«, sagte
Shirley. »Donald wird es nicht gerade interessieren, was du für deine Tochter
Dona empfindest.«
»Aber er war doch dabei, als
ich sie beschuldigte, daß sie mich vergiften wollte. Das war dumm von mir, ich
war in diesem Moment nicht ganz zurechnungsfähig. Meine Nerven gingen durch,
und ich wurde hysterisch. Ich wollte mich gerade mit Dona aussprechen und
erreichen, daß wir uns besser verstehen, doch dann wurde mir schlecht, und ich
dachte,... aber zum Denken kam ich ja gar nicht mehr. Wir Menschen aus dem
Süden werden stark von unseren Gefühlen beherrscht.«
Ich nickte nur.
»Es ist wirklich nicht so
wichtig, was du Mr. Lam da erzählst, Juanita«, sagte Shirley.
Juanita Grafton wandte ihren
Blick nicht von mir ab. Ihre dunklen, durchdringenden Augen baten förmlich um
Verständnis. »Uns Südländern bedeutet unsere Familie alles. Wir jagen nicht
nach Geld und materiellem Besitz wie die meisten Menschen hier und in anderen
Ländern. Unser Heim, unsere Freunde und unsere Familie sind für uns das
Wertvollste auf dieser Welt. All das ist uns wichtiger als euch hier im Norden.
Ich kann mir darüber ein Urteil erlauben, denn ich habe hier und im Süden
gelebt.«
»Ich habe Ihre Tochter heute
zum erstenmal gesehen. Ich war in einer geschäftlichen Angelegenheit bei ihr.
Wir sprachen über ihre Bilder, und ich muß schon sagen, daß sie mir recht gut
gefielen.«
»Dann sind Sie also nicht mit
ihr befreundet?«
»Ich bin ihr nie zuvor
begegnet.«
»Hat sie Ihnen gegenüber
vielleicht etwas über mich verlauten lassen?«
»Nicht ein Wort.«
»Ich begreife Dona nicht.
Zwischen ihr und mir liegt eine so große Kluft. Sie hat reichlich viel vom
Norden angenommen. Sie ist ehrgeizig und läßt sich durch nichts von ihren
Zielen abbringen. Sind Sie nicht auch der Meinung, Señor Lam, daß es wenig
hilft, wenn man als Künst 1 er
große Leistungen vollbringt, aber dafür alle Liebesbande zu seiner Umgebung
zerstören muß? Die Liebe ist es doch, die den Menschen das Leben erst wertvoll
erscheinen läßt; die Liebe seiner Freunde, seiner Familie, die Bande, die die
Herzen der Menschen zusammenhalten. Bei uns fühlt man sich reich, sobald man
viele gute Freunde hat. Reich an Geld, aber arm an Freunden erscheint uns als
ein großes Unglück. Verstehen Sie mich, Señor Lam?«
»Ich bin zwar nie in Ihrer
Heimat gewesen, aber ich habe von der idealistischen Einstellung Ihrer
Landsleute schon gehört.«
»Es ist so. Das ist bei uns ein
Lebensgebot. Und nun betrachten Sie sich meine Tochter Dona, wie weit sie sich
bereits von den Sitten meines Landes entfernt hat. Sie hat sich gegen mich
gewandt, betrachtet mich als etwas, das sie einfach beiseite schieben kann.
Mich, ihre Mutter! Sie vertraut sich mir nicht mehr an! Ihre Liebe gehört den
Pinseln, ihrer Malerei. Schauen Sie nur ihre Bilder an, dann erkennen Sie ihren
Ehrgeiz und wonach sie strebt. Dem Erfolg rennt sie nach! Und was bedeutet
schon Erfolg? Nichts! Er ist genauso vergänglich wie alles andere auf dieser
Welt. Welcher Erfolg ist überhaupt das Opfer einer Freundschaft wert? Was kann
Erfolg schon bieten, wenn man die Liebe opfern muß?«
»Hat sie wirklich keine
Freunde?« fragte ich.
»Nein, ich wüßte keinen. Sie
stößt alle beiseite. Sie lebt nur ihrem Ehrgeiz. Außer
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