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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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Guckloch hinauszulinsen.
    Da ist sie. Ihretwegen hat es oben diesen Krach gegeben. Durch die Fischaugenlinse sieht Sheldon eine junge Frau um die dreißig, direkt vor seiner Tür. Sie steht so dicht davor, dass er sie nur von der Hüfte aufwärts erkennen kann, aber das reicht, um sie einzuordnen. Sie hat ein dunkles T-Shirt unter einer billigen braunen Lederjacke an. Sie trägt kitschigen Modeschmuck und hat die Haare mit einer Unmenge von Schaumfestiger gestylt, der es daran hindert, den Gesetzen der Schwerkraft zu gehorchen.
    Alles an ihr schreit:
Balkan
. Sheldon kann nur raten, was für ein Leben sie führt, und doch deutet alles darauf hin, dass sie hier in Oslo völlig fehl am Platz ist. Wahrscheinlich eine Asylbewerberin. Vielleicht kommt sie aus Serbien, dem Kosovo oder aus Albanien. Vielleicht auch Rumänin. Wer weiß?
    Seine erste Regung ist Mitleid. Nicht für die Person, die sie ist, sondern für die Umstände, denen sie ausgeliefert ist.
    Das Gefühl dauert an, bis es durch eine Erinnerung verwandelt wird.
    Das haben sie mit uns auch gemacht, denkt er, während er durch das Guckloch schaut. Dann verschwindet das Mitleid und macht der Entrüstung Platz, die ständig unter der Oberfläche lauert, immer bereit hervorzuschießen.
    Die Europäer. Fast alle von ihnen, irgendwann mal. Sie schauten durch ihre Spione, und draußen rannten Nachbarn vorbei, die Kinder an die Brust gepresst, während bewaffnete Verbrecher sie durchs Gebäude jagten. Kleine fischige Augen, die durch konkave Linsen lugten und anderen bei der Flucht zuschauten. Voller Furcht, voller Mitleid hinter dem Glas oder auch mordlüstern und schadenfroh.
    Alle waren in Sicherheit, weil sie etwas nicht waren.
    Zum Beispiel keine Juden.
    Die Frau dreht den Kopf hin und her. Sucht nach etwas.
    Wonach? Wonach sucht sie?
    Der Kampf hat nur ein Stockwerk über ihm stattgefunden. Das Monster da oben könnte in zwei Sekunden hier unten sein. Warum zögert sie? Worauf wartet sie? Was dauert denn da so lang?
    Oben hört man, wie jemand herumfuhrwerkt. Das Monster schmeißt Sachen umher, sucht nach etwas. Es durchforstet auch die hinterste Ecke. Jeden Augenblick wird es innehalten, sich auf sie stürzen und die Herausgabe fordern.
    «Renn doch, du dummes Ding!», murmelt Sheldon. «Lauf raus, lauf zur Polizei und dreh dich nicht um. Er wird dich umbringen!»
    Und dann hört man als Echo einen zweiten Knall. Wie vorhin. Es ist die Tür, die gegen die Wand dahinter schlägt.
    «Renn, du dummes Ding!», ruft Sheldon. «Warum stehst du denn da rum?»
    Einem Impuls folgend, dreht Sheldon den Kopf zum Fenster. Draußen auf der Straße steht ein weißer Mercedes. Drinnen sitzen Männer in billigen Lederjacken und rauchen Zigaretten. Sie versperren ihr den Weg nach draußen.
    Das ist der Grund.
    Ruhig, langsam, aber ohne zu zögern, öffnet Sheldon die Tür.
    Was er da sieht, hat er nicht erwartet.
    Die Frau presst eine hässliche pinkfarbene Schatulle von der Größe eines Schuhkartons an sich. Und sie ist nicht allein. An ihren Bauch schmiegt sich ein kleiner Junge, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Er ist zu Tode erschrocken, das sieht man. Er trägt eine grüne Wachsjacke, seine Füße stecken in blauen Gummistiefeln mit von Hand aufgemalten gelben Paddington-Bären. Seine beigefarbene Cordhose ist ordentlich hineingestopft.
    Die Schritte von oben hallen auf der Treppe wider. Eine Stimme brüllt einen Namen. Vera vielleicht? Laura? Clara? Jedenfalls etwas Zweisilbiges. Ein heiseres Bellen. Ein keuchender Husten.
    Sheldon winkt sie herein, den Finger auf die Lippen gepresst.
    Vera schaut die Treppe hinauf, dann hinaus auf die Straße. Sie sieht Sheldon nicht an. Fragt sich nicht, was er wohl vorhat, und gibt ihm auch keine Chance, es sich anders zu überlegen, indem sie ihm in die Augen schaut, um sich Klarheit zu verschaffen. Sie schiebt den kleinen Jungen vor sich in die Wohnung hinein.
    Sheldon schließt ganz, ganz leise die Tür. Die Frau mit ihren breiten slawischen Wangenknochen schaut ihn voll Entsetzen an. Sie kauern sich mit dem Rücken zur Tür hin und warten, dass das Monster vorbeigeht.
    Erneut legt er den Finger auf die Lippen. «Pssst», macht er.
    Jetzt braucht er nicht mehr durch den Spion zu schauen. Er ist keiner der Leute mehr, die er eigentlich hasst. Und während er da so sitzt neben den beiden, stellt er sich vor, er stünde mitten auf einem Fußballfeld mit einem Megaphon, umgeben von den Greisen Europas, und brüllte: «Was war

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