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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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einer Geste der Unterwerfung und Einsamkeit. Sheldon begreift sofort, dass dies für den Jungen eine vertraute Position ist. Er wird still sein. Das hat er in seiner Welt des Schreckens bereits gelernt.
    Dann hört das Gezanke auf. Die Türen des Mercedes öffnen und schließen sich, der starke Motor startet. Gleich darauf fährt der Wagen los.
    Sheldon seufzt. Er reibt sich das Gesicht mit den Händen, um den Blutfluss wieder in Gang zu bringen, und massiert sich dann kräftig die Kopfhaut. Er hat sich sein Gehirn immer wie den flüssigen Eisenkern der Erde vorgestellt. Grau und schwer, ständig in Bewegung, seine eigene Schwerkraft erzeugend und sorgfältig auf den Halswirbeln balancierend, so als würde die Erde auf dem Rücken einer Schildkröte im Kosmos balancieren.
    Ereignisse wie dieses führen leicht dazu, dass der Eisenfluss ins Stocken gerät oder sogar die Flussrichtung wechselt, wodurch es dann zu einer Eiszeit kommen kann. Eine kleine Massage kann da Abhilfe schaffen.
    Diesmal ist ihm eiskalt, überall.
    Er schaut zu seinen Gefährten hinüber, die noch immer in Embryostellung auf dem Fußboden seiner Wohnung kauern. Die Frau sieht noch teigiger und plumper aus als vorhin durch den Türspion. Die dünne Lederjacke ist noch dünner. Das nuttige T-Shirt ist noch nuttiger. Mit jeder Faser verrät es die Unterschichten-Immigrantin vom Balkan. Den Mann vor der Tür hat er nicht gesehen. Er stellt ihn sich nur fett und schwitzend vor, in einem Adidas-Trainingsanzug chinesischer Fabrikation, mit weißen Streifen an Armen und Beinen. Seine Kollegen, die wie er aus dem Mund stinken, haben wahrscheinlich schwarze, aufgeknöpfte Hemden unter schlechtsitzenden Fake-Designer-Jacketts aus Polyester an.
    All das ist so entsetzlich vorhersehbar. Alles außer den aufgemalten Paddington-Bären auf den hellblauen Gummistiefeln des Jungen. Die hat jemand voller Liebe und Phantasie draufgemalt. Sheldon möchte in diesem Augenblick seltsamerweise daran glauben, dass die käsige Nutte neben ihm sie gemalt hat.
    Das Auto ist weggefahren, und da sagt Sheldon zu dem Jungen: «Das sind hübsche Stiefel.»
    Der Junge hebt den Kopf von der Armbeuge und sieht zu ihm auf. Er versteht ihn nicht. Sheldon ist nicht sicher, ob es nur die Bemerkung ist, die er nicht versteht, weil sie so unvermittelt kam, oder die komplette Sprache. Es gibt schließlich keinen guten Grund zu glauben, er müsse Englisch können, außer der Tatsache, dass heutzutage jedermann Englisch spricht.
    Also ehrlich. Warum sollte man etwas anderes sprechen? Das ist Sturheit, nichts anderes.
    Dann fällt ihm ein, dass der Junge eine sanfte, ermutigende Männerstimme vielleicht als etwas absolut Ungewöhnliches empfindet. Er lebt in einer Welt gewaltbereiter Männer, wie so viele kleine Jungen. Bei diesem Gedanken kann er nicht umhin, es nochmals zu versuchen.
    «Hübsche Bären», sagt Sheldon, deutet auf die Bären und reckt den Daumen in die Höhe.
    Der Junge schaut auf seine Stiefel und dreht ein Bein einwärts, um sie sich selber anschauen zu können. Er versteht nicht, was Sheldon sagt, aber er weiß, worüber er spricht. Er erwidert Sheldons Blick, ohne zu lächeln, und vergräbt sein Gesicht dann wieder in der Armbeuge.
    Währenddessen ist die Frau aufgestanden und hat begonnen zu reden. Sie spricht schnell. In ihrem Ton liegt Dankbarkeit und Zutrauen und etwas Entschuldigendes, was in Anbetracht der Umstände auch angemessen erscheint. Die Worte selbst sind ein ziemliches Kauderwelsch, aber zum Glück spricht Sheldon Englisch, was überall auf der Welt verstanden wird.
    «Keine Ursache. Ja. Ja-ha. Schauen Sie, ich bin alt, also hören Sie auf mich. Verlassen Sie Ihren Mann. Er ist ein Nazi.»
    Sie fährt fort mit ihrem Gebrabbel. Schon wenn man sie ansieht, packt einen die Verzweiflung. Sie hat den Akzent einer russischen Prostituierten. Dasselbe nasale Selbstbewusstsein. Dasselbe Verschleifen der Worte. Keine Sekunde hält sie inne, um ihre Gedanken zu sammeln oder sich einen Satz zurechtzulegen. Nur Gebildete nehmen sich Zeit, um nach Worten zu suchen – sie haben genügend, um sie unter Umständen falsch zu verwenden.
    Sheldon rappelt sich auf und klopft sich den Staub von der Hose. Er hebt die Hände. «Ich verstehe nicht. Ich verstehe nicht. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen will. Gehen Sie einfach zur Polizei und kaufen Sie dem Jungen einen Milchshake.»
    Sie ist nicht zu bremsen.
    «Milchshake», sagt Sheldon.

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