Ein seltsamer Ort zum Sterben
Verbrecher unorganisierter als heute. Früher hatten sie noch nichts mit globalen kriminellen Netzwerken und Terrorismus zu tun. Erst seit einigen Jahren, seit Europas Grenzen aufweichten und auf dem Balkan, im Mittleren Osten und in Afghanistan Kriege tobten, bekam das einheimische organisierte Verbrechen Ähnlichkeit mit den amerikanischen Serien, die sie oft allein am frühen Abend nach der Arbeit schaute.
Sigrid, Anfang vierzig, war vor kurzem zum
Politiførstebetjent
, also zur Hauptkommissarin ihres Reviers, befördert worden, nachdem sie sich von der Polizistin über das Amt des Wachtmeisters zur Kommissarin hochgearbeitet hatte. Sie war politisch einigermaßen unbedarft und hatte kein großes Interesse an dieser Position, doch sie bot immerhin eine Gelegenheit, ein breiteres Spektrum an Kriminalität in dieser Stadt überblicken und die Entwicklungen von einer höheren Warte aus betrachten zu können. Sie war fest davon überzeugt, dass ihr Job ihre letzte Station darstellte, und dankbar, dass sie ihr Potenzial ohne übermäßige Anstrengung oder Frustration ausgeschöpft hatte.
Ab jetzt, dachte Sigrid, werde ich meinen Job machen, als Sachverständige dienen und helfen, wo immer ich kann.
Als Sachverständige wurde sie von einem Stab fähiger, ihr ergebener Männer aus ihrer Einheit unterstützt, die begriffen, dass sie an seltsamen Vorkommnissen Gefallen fand. Gemeinsam sorgten sie dafür, ihr die bemerkenswertesten Vorfälle anzutragen, und niemand war darin eifriger als Petter Hansen. Petter, sechsunddreißig Jahre alt und immer noch bartlos, erspähte Eigentümliches mit dem geübten Auge eines Antiquitätensammlers.
Seine Aufgabe war im Verlauf der letzten Jahre einfacher geworden, denn Oslo war nun nicht mehr die stille, ereignislose Stadt von einst. Inzwischen gab es Vergewaltigungen, Diebstähle, bewaffnete Überfälle, heftige häusliche Auseinandersetzungen und eine zunehmende Schar jüngerer Menschen, die der Polizei keinen Respekt mehr entgegenbrachten. Neue Immigrationswellen aus Afrika und Osteuropa und aus muslimischen Ländern noch weiter östlich sorgten für neue soziale Spannungen in der Stadt, der nach wie vor die politische Reife mangelte, angemessen damit umzugehen. Die Liberalen propagierten grenzenlose Toleranz, und die Konservativen waren rassistisch oder fremdenfeindlich. Die Debatten gründeten auf den diversesten philosophischen Überzeugungen, niemals aber auf pragmatischen Erwägungen, und so wurde auch keine Antwort auf die eigentliche Frage gegeben, die heute unsere gesamte westliche Zivilisation heimsucht, nämlich:
Wie tolerant müssen wir der Intoleranz gegenüber sein?
Sigrid legt ihr angeknabbertes Sandwich auf die braune Papiertüte, in der sie es bis zum Abend aufbewahrt hat, und sieht auf, als Petter mit einem Lächeln auf ihren Schreibtisch zukommt, was nur bedeuten kann, dass er einen weiteren geheimen Schatz geborgen hat.
«Hi», sagt sie.
«Hi», sagt er.
«Was gefunden?»
«Ja.»
«Schön für dich.»
«Etwas Grässliches.»
«Okay.»
«Aber irgendwie anders.»
«Fang mit dem Grässlichen an.»
«Ein Mordfall. Eine Frau in den Dreißigern in Tøyen. Erst erwürgt, dann erstochen. Den Tatort haben wir bereits gesichert. Wir fangen jetzt mit der Spurensicherung an.»
«Wann ist das passiert?»
«Ich habe den Anruf vor zwanzig Minuten bekommen. Wir waren zu fünft dort. Jemand im Haus hat einen Streit gehört und uns gerufen.»
«Verstehe. Und was ist anders?»
«Das hier», sagt Petter und reicht Sigrid einen Zettel. Es stand etwas in Englisch darauf. Zumindest in einer Art Englisch. Sie liest es sorgfältig. Und dann noch einmal.
«Weißt du, was das bedeutet?»
«Nein. Aber da sind einige Schreibfehler.»
«Genau.»
«Wir haben die Wohnungseigentümer angerufen. Die Frau, die getötet wurde, hat nicht darin gewohnt. Sie wohnte mit ihrem Sohn eine Etage höher. Der Sohn ist verschwunden. Der Wohnungseigentümer ist Lars Bjørnsson.»
«Kennen wir ihn?»
«Er entwickelt Videospiele. Phantastisch!»
«Du bist sechsunddreißig, Petter.»
«Es sind aber sehr anspruchsvolle Videospiele.»
«Verstehe.»
«Er ist in Raum 4 . Sie sind gleich hergekommen. Lars’ Frau sagt, ihr Großvater sei aus der Wohnung verschwunden.»
«Wohnt der auch dort?»
«Ja. Ein Amerikaner. Rentner.»
«Verstehe. Sind die beiden verdächtig?»
«Na, du weißt ja. Wir müssen herausfinden, wo sie zu der Zeit waren, aber ich glaub’s eigentlich nicht.» Petter
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