Ein seltsamer Ort zum Sterben
überlebenswichtiger Instinkt. Sie sagt dir, da stimmt was nicht, pass auf. Panik ist, wenn die Angst sagt, jetzt übernehm ich mal das Ruder. Sie reduziert dich auf ein völlig durchgeknalltes Etwas. Wenn du beim Schwimmen Panik schiebst, ertrinkst du. Wenn du auf dem Schlachtfeld Panik schiebst, wirst du erschossen. Ein panischer Scharfschütze verrät sein Versteck, verfehlt sein Ziel und vermasselt seinen Auftrag. Dein Vater wird dich hassen, deine Mutter dich ignorieren, und Frauen auf dem ganzen Erdball werden das Aroma des Versagers, das aus allen Poren deines Körpers dringt, zehn Meilen gegen den Wind wittern. Also, Gefreiter Horowitz! Was lernen wir daraus?»
«Warten Sie ’ne Sekunde. Es liegt mir auf der Zunge.»
Sheldon konzentriert sich auf das Schloss. Da ist eine Türkette, die er beiseiteschiebt. Dann ist da ein Riegel, den er öffnet. Und eine Klinke, die er herunterdrückt, indem er sich mit seinem Gewicht langsam darüberbeugt, in der Hoffnung, dass die Angeln nicht quietschen.
Die Stufen, die zu Sheldons Wohnung führen, sind von der Küche aus nicht sofort sichtbar. Vom Wohnzimmer hat das Monster Zugang zu zwei Schlafzimmern, die es erst durchsuchen kann, bevor es zu den Stufen gelangt.
Es ist nur noch eine Frage von Sekunden.
Sheldon packt den Jungen bei den Schultern, und just in diesem Moment kriecht die Mutter unter dem Bett hervor. Einen Augenblick lang stehen alle drei schweigend da und schauen einander an. Pause vor dem letzten Gefecht.
Stille breitet sich aus.
Vera steht im Türrahmen vor den drei Stufen. Sie wird umflutet von norwegischem Sommerlicht, und in diesem gesegneten Augenblick sieht sie aus wie eine Heilige auf einem Renaissancegemälde. Zutiefst verehrungswürdig. Unsterblich.
Und dann hören sie schwere Schritte.
Vera hört sie. Langsam und ruhig weitet sie die Augen, schiebt ihren Jungen zu Sheldon hinüber, formuliert tonlos etwas, das Sheldon nicht begreift, und dreht sich dann um. Bevor die Beine des Monsters die Stufen herabsteigen können, läuft Vera entschlossen in den Wohnbereich hoch und wirft sich mit voller Wucht gegen den Mann.
Der Junge macht einen zögerlichen Schritt nach vorn, doch Sheldon packt ihn. Mit seiner freien Hand versucht er nochmals, die Hintertür zu öffnen. Noch immer will sie nicht aufgehen. Sie sitzen in der Falle.
Sheldon lässt den Teppich los, der in seine Position zurückfällt. Er öffnet die Tür zum Wandschrank, schiebt den Jungen hinein und legt den Finger auf die Lippen. Sein Blick ist so streng und der Junge so starr vor Schrecken, dass kein Laut zwischen ihnen gewechselt wird.
Dann Schreie, das Ringen zweier Körper, ein Sturz, heftige Gewalt.
Er sollte sein Versteck verlassen. Den Schürhaken am Kamin packen, ihn mit der ganzen Wucht der Gerechtigkeit schwingen und die Spitze in den Hirnstamm des Monsters treiben, um dann aufrecht stehen zu bleiben, während der leblose Körper auf dem Boden aufschlägt.
Aber er tut es nicht.
Er zieht die Schranktür mit dem Finger an der Innenkante so nah wie möglich heran.
Als er hört, wie jemand im Todeskampf nach Luft ringt, beginnt es im Wandschrank auf einmal stark nach Urin zu riechen. Er zieht den Jungen an seine Brust, presst die Lippen auf seinen Kopf und hält ihm die Ohren zu.
«Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Das ist alles, was ich tun kann. Es tut mir so leid.»
3. Kapitel
Seit etwas über achtzehn Jahren ist Sigrid Ødegård nun schon bei der Osloer Polizei. Sie kam zum
Politidistrikt
, nachdem sie das Aufbaustudium in Kriminologie an der Universität Oslo abgeschlossen hatte. Ihr Vater hatte sie davon überzeugt, in die Stadt zu gehen, anstatt oben im Norden weiterzustudieren, denn seiner Ansicht nach gab es in Oslo mehr geeignete Männer.
Wie es so oft der Fall ist, sowohl in der Polizeiarbeit als auch im Leben, erwies sich die Theorie ihres Vaters als ebenso richtig wie irrelevant.
«Aber Papa, es geht doch um die Frage, wie viele Männer sich für mich interessieren, nicht nur um die Anzahl verfügbarer Männer», antwortete Sigrid 1989 ihrem verwitweten Vater, bevor sie nach Oslo ging.
Ihr Vater war ein Bauer vom Land. Obwohl er nie in den Genuss einer höheren Schulbildung gekommen war, hatte er etwas für Zahlen übrig, denn sie eigneten sich hervorragend, um das Leben auf dem Bauernhof zu organisieren. Er las auch gerne Bücher zum Thema Geschichte. Als Student hätte er sich nicht bezeichnet, denn er hatte ja keinen Lehrer, aber er liebte es
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