Ein seltsamer Ort zum Sterben
zu lesen, interessierte sich für untergegangene Welten und hatte ein gutes Gedächtnis. Auch hatte er ein feines Gespür für die Gesetze der Vernunft, und er und Sigrid fanden dort Zuflucht, wenn ihre Gefühle zu zart waren.
«Wenn dein Argument stichhaltig ist», hatte er ihr bei einem ruhigen Abendessen, bestehend aus gebratenem Lachs, Kartoffeln und einer Flasche Bier geantwortet, «dann ist es überhaupt keine Frage der Verhältnismäßigkeit, sondern der Wahrscheinlichkeit. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es da einen Mann gibt, dem deine Attraktivität und Offenheit ins Auge springen? Trotzdem, ich bleibe bei meiner Überzeugung, dass ein solcher Mann in der großen Stadt leichter zu finden ist.»
«So groß ist die Stadt gar nicht», sagte Sigrid.
Ihr Vater löste Schicht um Schicht des rosafarbenen Fischfilets, um zu sehen, ob es gut durchgebraten war. Es zerfiel beinahe von selbst.
«Die größte, die wir haben», gab er zu bedenken.
«Na ja, schon …», murmelte sie und streckte die Hand nach der Butter aus.
Sigrids älterer Bruder war nach Amerika gegangen, nachdem man ihm einen Job als Verkäufer von Landmaschinen angeboten hatte. Es war ein gutes Angebot, und ihr Vater bestand darauf, dass er es annahm. Obwohl sie Kontakt hatten, besuchte Sigrids Bruder sie so gut wie nie. Sie beide waren jetzt die Familie. Sie und die Tiere.
«Mit der Stadt gebe ich dir recht, aber da sind immer noch zwei Probleme», sagte sie.
«Ach ja?»
«Erstens bin ich nicht hübsch. Ich bin ganz normal. Und zweitens ist es so gut wie unmöglich herauszufinden, ob ein norwegischer Mann Interesse hat.»
Das wusste sie dank empirischer Beobachtungen und Vergleiche.
Sie hatte nämlich mal einen Briten namens Mike kennengelernt. Mikes Annäherungsversuche waren so entgegenkommend, dass es am Ende nicht an seinem Verhalten lag, dass es nicht dazu kam, wozu es kommen sollte, sondern am Alkoholpegel.
Sie hatte außerdem einen Deutschen kennengelernt, der lieb, herzlich und klug war und dessen einziger Fehler darin bestand, Deutscher zu sein. Das war unfair, und sie wusste es auch und hatte ein schlechtes Gewissen deshalb, aber Sigrid wollte einfach nicht jedes zweite Weihnachten in Hannover verbringen. Der Ehrlichkeit halber muss gesagt sein, dass es ihm genauso ging.
Norwegische Männer dagegen waren problematisch, selbst für norwegische Frauen, die immerhin die größte Veranlassung hatten, ihren Verhaltenscode zu knacken, und sei es nur, weil sie ihre Nachbarn waren.
Sie erklärte es ihm. «Sie sind höflich. Zum Teil sogar geistreich. Sie ziehen sich, egal wie alt sie sind, wie Teenager an und sagen nie etwas Romantisches, außer vielleicht wenn sie versuchen, dir sturzbetrunken eine Liebeserklärung zu machen.»
«Dann mach sie sturzbetrunken.»
«Ich glaube nicht, dass das der erste Schritt zu einer ernsthaften Beziehung sein sollte, Papa.»
«Die Dinge können nicht andauern, wenn sie gar nicht erst beginnen. Wenn die Sache erst einmal läuft, kannst du dir immer noch Gedanken über ihren Fortbestand machen.»
Sigrid zog eine Schnute, und ihr Vater ließ die Schultern sinken.
«Kind. So schwer ist das alles gar nicht. Du suchst nach dem Mann, der in deiner Gegenwart angestrengt auf seine Schuhspitzen starrt. Die Art von Mann, dem die Sprache versagte, wenn er je den Mut aufbrächte, dich anzusprechen. So jemanden suchst du. Und glaub mir: Der wird dich lieben und im Streit immer nachgeben. Auf lange Sicht ist das der Schlüssel zur Langlebigkeit einer Beziehung, worauf du es offensichtlich abgesehen hast.»
Sigrid lächelte. «Weißt du, Papa, in Oslo reden sie halt mehr.»
«Na ja», sagte er. «Die Welt ist schon ein kniffliger Ort!»
Ihr Vater leerte sein zweites Bier und lehnte sich mit einer schweren hölzernen Pfeife zurück, die er mit erfahrener Hand und einem langen Streichholz entzündete.
«Und?», sagte er dann. «Was willst du nach der Uni machen?»
Sigrid strahlte.
«Ich werde mich der Verbrechensbekämpfung widmen.»
Sigrid Ødegårds Vater nickte zustimmend. «Das ist mein Mädchen.»
Da sie das besonders interessierte, hatte Sigrid sich auf organisiertes Verbrechen spezialisiert. Traditionellerweise waren damit Drogen, Waffen und Menschenhandel und ein bisschen Wirtschafts- und Unternehmenskriminalität gemeint – obwohl die Osloer Polizeibehörde für diese Art von «gehobenem» Verbrechen schmerzlich unterbesetzt war. Als sie angefangen hatte, waren die organisierten
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