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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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Unvorstellbare in ihrem eigenen Zuhause geschehen, und ihr Großvater ist verschwunden.
    Rhea hat überlegt und voller Zuneigung gesprochen. Sie hat mit leisem Entsetzen von dem gesprochen, was sie gerade durchlebt. Sie hat in Wellen der Einsicht und Menschlichkeit gesprochen.
    «Also, verstehen Sie das?», fragt sie am Ende.
    Sigrid hat tatsächlich aufmerksam zugehört. Daher antwortet sie sehr genau.
    «Ein 82 -jähriger dementer amerikanischer Scharfschütze wird angeblich von koreanischen Killern in Norwegen verfolgt, nachdem er Zeuge eines Mordes wurde. Vielleicht aber auch schon vorher.»
    Rhea zieht die Brauen zusammen. «So habe ich es nicht gesagt.»
    «Ist mir etwas entgangen?», fragt Sigrid und wirft einen Blick auf ihre Notizen.
    «Also … Er ist Jude.»
    Sigrid nickt und schreibt es in ihre Notizen. Dann sieht sie auf.
    «Na ja …», sagt Rhea, «dieser Teil ist wichtig. Es ist sozusagen der Rahmen für all das Übrige. Es ist nicht nur eine Tatsache. Es ist nicht so, als würde er einen blauen Mantel tragen und keinen braunen. Es ist ein entscheidendes Detail.»
    «Inwiefern?»
    «Na ja», sagt Rhea erneut und versucht, Worte zu finden, die das Wesentliche ausdrücken. «Es bedeutet, na ja … er ist Jude. Nicht irgendein armer Irrer. Verstehen Sie? Er ist Jude. Er heißt Sheldon Horowitz. Hören Sie es heraus? Seine ganze Geschichte liegt gleichsam in diesem Namen. Er ist ein alter Mann in einem fremden Land, der vermisst wird. Er ist dement. Er muss etwas gesehen haben. Irgendetwas ist passiert.»
    Nichts von dem, was Rhea gesagt hat, ergibt einen Sinn für Sigrid, die dieses neue, unzweifelhaft heikle Thema verwirrt. Über Juden weiß sie wenig. Es gibt nur etwa tausend Juden in ganz Norwegen. Schon sein Name klingt ganz fremd.
    Dennoch findet Sigrid es gut, dass Rhea versucht, etwas, das sie für so grundsätzlich hält, dass es keiner Erklärung bedarf, mit ihr zu teilen. Doch nun, als sie es zum ersten Mal erklären muss, ist sie frustriert und gerät ins Stocken. Obwohl sie noch darüber mit Petter sprechen muss, spürt sie bereits jetzt, dass die Frau und ihr Mann keine Verdächtigen sind.
    Rhea kann der Polizistin gegenüber am Tisch am Gesicht ablesen, wie fremd Norwegern die jüdische Existenz ist, und auf einmal fühlt sie sich schrecklich schuldig, weil sie ihren Großvater hierhergebracht hat.
    Dabei hatte ja Sheldon das Thema selbst einmal angeschnitten, an irgendeinem Morgen während irgendeines Ausbruchs beim Frühstück, wild mit seinem Becher herumfuchtelnd. Was dazu geführt hatte, dass die Geschichte der Juden in Norwegen vor ihrem geistigen Auge für immer mit Bildern von nackten Penthouse-Schönheiten in Airbrushtechnik verschmolzen sein würde.
    Nicht dass Sheldon sich nicht diebisch darüber gefreut hätte, wenn er das wüsste.
    «Eintausend Juden!», hatte Sheldon ausgerufen. «Das habe ich im Lonely Planet gelesen! Fünf Millionen Menschen und eintausend Juden. Die Norweger wissen gar nicht, was ein Jude ist. Sie glauben nur zu wissen, was ein Jude
nicht
ist.»
    Was Sheldon dann sagte, wühlte sie auf, weil er es in Anwesenheit von Lars sagte, der mit einer Jüdin verheiratet war, die sehr viel für Sheldon empfindet. Als Lars sie danach ansah, blickte sie zu Boden.
    «Juden, das hat man den Norwegern beigebracht, sind nicht gierig, heuchlerisch, schwach, bleich, heimtückisch, verschwörerisch, impotent, wollüstig oder verlogen. Sie haben keine Hakennase, knochigen Finger oder triebhaften Gelüste. Sie sind nicht durchtrieben oder evolutionstechnisch gesehen den nordischen Blonden untergeordnet und hecken auch keine Pläne zur Erlangung der Weltherrschaft aus», sagte Sheldon. «Man hat ihnen das eingetrichtert, damit sie zu netten Liberalen heranwachsen können, denen man die schlimme alte Nazipropaganda aus den Ohren gespült hat. Das Dumme daran ist nur, dass diese Art von Beschreibung nicht dazu führt, dass man nach draußen rennt und sofort mit einem von ihnen ein Date haben möchte.
    So kommt es, dass alles, was ihnen bei dem Wort ‹Jude› einfällt – und dabei sind wir doch seit dreitausend Jahren hier oder zumindest irgendwo –, der Holocaust und das israelisch-palästinensische Fiasko ist. Blöderweise ist nirgendwo in dieser verwickelten und arg vereinfachten Geschichte ein Plätzchen für Sheldon Horowitz oder für eine grüblerische kleine Sirene wie dich. Nirgendwo finden sich da dreitausend Jahre Geschichte, Philosophie, Theater, Kunst, Gelehrsamkeit,

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