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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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Schriftstellerei, gedrechselte Reden, Sex und punktgenauer, unvergleichlicher Humor, verdammt noch mal!
    Keine Sorge», fügte er dann an Lars gerichtet hinzu, «genau denselben Kram hat man den anderen Europäern auch erzählt.»

    Was ihm als Nächstes durch den Kopf gegangen war, hatte er still für sich behalten. Schaut euch die Friedhöfe an Frankreichs Nordküste an, dachte er und stellte den Becher auf dem Tisch ab. Seht euch die Gräber von Juden an, die an euren Stränden anlandeten. Dort, in der erdrückenden Stille Europas, das die Musik des jüdischen Denkens vergeudet hat. Wo wir eure Opfer waren. Schaut genau hin, denn wir kamen aus Amerika, wo wir zu fünfhunderttausend als Söhne Davids unterm Sternenbanner gegen die Apokalypse der westlichen Zivilisation kämpften.
    Atme sie tief ein, diese Lektion, Europa: Während du uns gemordet hast, haben wir dich befreit.
    Sheldon selbst war nicht in diesen Krieg gezogen. Er war zu jung dafür.
    «Was ich sagen wollte», beginnt Rhea an Sigrid gewandt, «ist, dass er ein alter, bemerkenswerter Mann ist, der am Ende eines langen, harten Lebens ein wenig aus der Bahn geraten und jetzt verschwunden ist.»
    Sigrid nickt. Lars und Petter schweigen weiterhin. Sigrid wirft erneut einen Blick auf ihre Notizen und sagt dann: «Ich würde gern noch einmal auf seine Demenz zu sprechen kommen.»
    «Gut, okay.»
    Sigrid bemerkt eine Veränderung auf Lars’ Gesicht, kann sie aber nicht einordnen.
    «Meine Großmutter ist vor kurzem gestorben», erklärt Rhea. «Seitdem ist Sheldon verwirrt. Sie standen einander ungewöhnlich nahe. Bevor sie starb, sagte sie mir, er leide an Demenz. Sie bat mich, auf ihn aufzupassen und mich auf den neuesten Stand zu bringen.»
    «Das war in New York.»
    «Genau. Ich erkundigte mich beim National Institute of Health über die Symptome.»
    Bei diesen Worten kicherte Lars zum ersten Mal hörbar.
    «Was denn?»
    «Du musst zugeben, dass dein Großvater jedes dieser Symptome entkräften kann.»
    Das Gespräch, auf das Lars sich da bezieht, hatte drei Wochen zuvor im Freien vor dem Westbahnhof in der Nähe der Aker Brygge im Osloer Hafen stattgefunden. Sie hatten bei Pascal’s gesessen, wo es ausgezeichneten Kuchen und Eis zu Phantasiepreisen gibt, das in lächerlichen Plastikbechern serviert wird. Ein riesiger Ozeandampfer hatte an der Akershus-Festung angelegt, und ein Strom großer Menschen mit Kameras und Riesenhunger kam auf sie zugetrieben.
    Als er die hungrigen Touristen sah, legte Sheldon schützend die Hand um seinen 12 -Dollar-Eisbecher.
    «Papa, alles, was ich sagen will, ist, dass es fünf Symptome gibt und wir aufmerksam sein sollten.» Sie las von einem Zettel ab, mit der verständnisvollsten und hilfsbereitesten Stimme, zu der sie fähig war: «Erstens, ständig dieselben Fragen zu wiederholen. Zweitens, sich an vertrauten Orten nicht mehr auszukennen. Drittens, unfähig zu sein, Anweisungen zu befolgen. Viertens, Zeit, Leute und Orte zu verwechseln, und fünftens, persönliche Sicherheit, Hygiene und Ernährung zu vernachlässigen.»
    Es war Samstagvormittag, und der Frühling ging gerade in die endlosen exzessiven norwegischen Sommertage über.
    Sheldon hörte zu und nickte. Dann fuhr er mit zwei Fingern seitlich an seinem Bierglas entlang und sammelte die Kondenstropfen ein. Er schloss die Augen und benetzte mit den kühlen Tropfen die Lider.
    «Hast du das schon mal gemacht? Fühlt sich großartig an.»
    «Papa.»
    «Was?»
    «Warum bestellst du dir immer Bier, wenn du es eh nie trinkst?»
    «Ich mag die Farbe», sagte er, die Augen fest geschlossen.
    «Hast du eine Ahnung, was ich gerade gesagt habe?»
    «Yep.»
    «Erinnerst du dich an die Frage?»
    Das war eine Provokation für ihn. Sheldon wandte sich zu Lars um, der aufmerksam zuhörte. «Pass gut auf:
    Erstens. Leute dazu zu bringen, ihre eigenen Fragen zu wiederholen, zwingt sie zu der Überlegung, was sie da eigentlich fragen. Wenn man nicht gewillt ist, eine Frage dreimal zu stellen, möchte man auch nicht wirklich eine Antwort haben. Zweitens,
du
hast mich doch nach Norwegen gebracht. Hier kenne ich mich definitiv nicht aus. Ich kann mich also gar nicht an vertrauten Orten verlaufen, sondern einfach nur verlaufen. Drittens, ich spreche kein Norwegisch, also kann ich auch keine Anweisungen befolgen. Viertens, ich kenne keinen halbwegs vernünftigen, kritisch reflektierenden Menschen, der – bei genauerer Betrachtung – Zeit, Menschen und Orte nicht höchst verwirrend

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