Ein seltsamer Ort zum Sterben
lässt die Lippen schmatzen und sagt dann: «So, gehen wir jetzt?»
Sigrid schaut an ihrer babyblauen Bluse hinab, um zu sehen, ob da etwas von ihrem Sandwich hängen geblieben ist. Befriedigt steht sie auf und folgt Petter den Gang entlang, vorbei an der Übersichtstafel, auf der der genaue Aufenthaltsort sämtlicher Polizisten und Fahrzeuge in der Stadt angezeigt wird, und an der Kaffeemaschine, die schon so lange kaputt ist, dass jemand (wahrscheinlich Stina) Blumen in die Glaskanne gepflanzt hat. Jetzt wird die Kanne regelmäßig gegossen.
In Verhörraum 4 steht ein runder Holztisch mit fünf Bürostühlen. Es gibt keinen Einwegspiegel, und die Stühle werden während der Befragung nicht quietschend über den Boden geschoben. Stattdessen gibt es eine Schachtel mit Kleenextüchern und ein paar Flaschen Mineralwasser. Das Fenster an der einen Wand ist geschlossen, aber nicht vergittert. An der gegenüberliegenden Wand hängt ein Poster, das für die norwegische Rentierpolizei wirbt. Eine Frau auf einem Schneemobil spricht mit zwei Sámi-Hirten. Sigrid stellt sich insgeheim immer vor, dass die Frau die beiden nach dem Weg fragt.
Am Tisch sitzen ein Mann und eine Frau. Der Mann ist Norweger, die Frau nicht. Er ist groß und blond und hat einen jungenhaften Gesichtsausdruck. Sie hat schwarzes Haar und ungewöhnlich tiefblaue Augen. Beide schauen ernst drein.
Sie blicken auf, als Sigrid, gefolgt von Petter, den Raum betritt.
Die beiden Polizeibeamten setzen sich an den Tisch. «Das hier ist Chefinspektor Østergård», sagt Petter auf Englisch.
«Angeblich liegt in meiner Wohnung eine Tote», meint Rhea, ebenfalls auf Englisch.
«Ja», sagt Sigrid. «So etwas interessiert uns eben.»
«Passiert das öfter hier?»
«Nein. Eher selten.»
«Es scheint Sie nicht sehr zu überraschen», sagt Rhea.
«Ach ja, nun, ist ja im Augenblick nicht so wichtig, oder? Also. Petter hat Ihnen davon erzählt. Kannten Sie das Opfer?»
Lars und Rhea nicken beide.
Sigrid fällt auf, dass es immer die Frau ist, die antwortet.
«Sie wohnte mit ihrem Sohn über uns. Hat nicht viel geredet. Ich glaube, sie kommt aus Osteuropa oder so. Sie hat sich oft gestritten. Mit einem Mann.»
«Was für einem Mann?»
«Ich weiß nicht. Aber er war in letzter Zeit oft bei ihr. Sie sprachen dieselbe Sprache. Er hörte sich sehr gewalttätig an.»
Sigrid und Petter machen sich Notizen. Außerdem läuft ein Diktiergerät.
«Was hatte sie in Ihrer Wohnung zu suchen?»
«Ich habe keine Ahnung.»
«Die Tür wurde eingetreten», sagte Petter.
«Hm, das finde ich interessant», sagt Sigrid. «Eine zierliche Frau wie sie. Hat sie wahrscheinlich kaum allein gemacht, oder?»
Petter schüttelt den Kopf. «Die Trittspuren von großen Männerstiefeln sind über die ganze Tür verteilt.»
«Sie war also in Ihrer Wohnung, als diese abgeschlossen war. Hatte sie einen Schlüssel?»
«Nein», sagt Rhea.
«Schließen Sie für gewöhnlich ab, wenn Sie weggehen?»
«Ja, aber mein Großvater war da. Sheldon Horowitz.»
«Aha», macht Sigrid. «Möchten Sie darüber sprechen?»
Also beginnt Rhea zu sprechen und erzählt ihr etwas, das sie noch nie gehört hat. Sie spricht über ihren Großvater, der verschwunden ist. Sie spricht über New York City in den dreißiger Jahren, als Sheldon ein kleiner Junge war. Sie erwähnt E. B. Whites Erinnerungen an die Stadt. Den drohenden Krieg und den kleinen Sheldon, der die älteren Jungs in den Kampf ziehen sah, während er zurückbleiben musste, weil er noch zu klein war. Wie viele der Älteren nie mehr zurückkamen. Sie erzählt von Mabel und wie er um sie warb. Wie er von der Marine eingezogen wurde und in Pusan in einem Büro arbeitete, obwohl er da in letzter Zeit etwas anderes behauptet.
Wie Sheldon und Mabel ihren Sohn Saul bekamen und wie Saul endlose Stunden in Sheldons Antiquitäten- und Uhrmacherladen zubrachte und lernte, wie man alles zwischen 1810 und 1940 Entstandene mit einem Schraubenzieher auseinandernahm und anschließend zusammensetzte, damit es wieder wie geschmiert lief.
Sie erzählt davon, wie ihr Vater Saul in Vietnam starb. Wie alle Freunde Sheldons nach und nach an Altersschwäche starben, wie Mabel starb, wie das Gewicht der Welt und ihre geistige Last ihn niederdrückten und wie dieser Umzug an die nördliche Grenze westlicher Zivilisation ihr eigener gescheiterter Versuch war, einen letzten gemeinsamen Moment vor dem Ende zu genießen. Sie redet von seinen Ängsten. Nun ist das
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