Ein seltsamer Ort zum Sterben
ist egal, denn wie es der Zufall will, passt einer in das Vorhängeschloss an der Garagentür zur Straße hin.
Ohne großen Optimismus nimmt Sheldon das Schloss ab und hängt es geöffnet wieder in seinen Bügel zurück, dann lässt er die Tür mit einer dramatischen Geste aufschwingen, deren einziger Zweck darin besteht, ihm ein gutes Gefühl zu vermitteln.
Was er drinnen sieht, weckt in ihm zum ersten Mal, seitdem Rhea von ihrer Fehlgeburt erzählt hat, die Lust zu lachen.
Er lässt die Türen zur Garage offen stehen und schlurft zurück ins Wohnzimmer, wo er die untere Hälfte des Wikingers unter dem betagten dreisitzigen Sofa hervorragen sieht. Sheldon wendet sich an den Allerwertesten des Jungen:
«Was machste denn da unterm Sofa?»
Als der Junge Sheldons Stimme hört, beginnt er rückwärtszukrabbeln. Sobald er vollständig hervorgekrochen ist, dreht er sich um. Er hält einen sehr großen Ball aus Staub und Haaren in die Höhe.
Sheldon zieht einen geschwungenen dänischen Sessel heran und setzt sich. Erst betrachtet er den Jungen, dann diese Wollmaus da, die er wie eine Trophäe emporreckt.
«Das ist eine sehr beeindruckende haarige Kugel, die du da hast.»
Paul betrachtet sie nun auch.
«Weißt du, das ist ein gutes Zeichen. Nehme ich an. Bevor Huck und Jim zu ihrer Reise aufbrachen, hatte Jim auch so eine Haarkugel. Seine konnte sprechen, wenn man eine Münze drunterlegte. Ich hab allerdings keinen Nickel. Und die hier spricht wahrscheinlich sowieso Norwegisch. Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.»
Sheldon nimmt einen Kopfkissenbezug aus dem Schlafzimmer und setzt die Haarkugel darauf. Er legt die vier Enden übereinander und bindet sie zusammen. Aus dem Wandschrank im Flur holt er einen Plastikbesen und schraubt den Stiel ab. Den steckt er durch den zusammengeknoteten Kissenbezug und legt das ganze Ding auf Pauls Schulter.
«Jetzt bist du ein norwegisch-albanischer Haarkugel-Landstreicher-Wikinger. Wetten, dass du das heute beim Aufwachen noch nicht wusstest?»
Sie rüsten sich mit ihren Gummistiefeln, waschen das Geschirr ab, räumen es weg, ziehen die Betten ab und werfen die Wäsche in einem großen Haufen auf den Boden. Zum Schluss betätigen sie noch einmal die Toilettenspülung. Sheldon schnippt ein paarmal mit den Fingern, Zeit zum Aufbruch. Er schultert seinen Tornister und rückt den Gurt zurecht, damit er besser auf seinen schmalen Schultern liegt, und schreitet dann zusammen mit Paul hinaus ins Licht, um ihm seine besondere Entdeckung zu zeigen.
«Komm, komm, komm. Jetzt bleib stehen. Und rühr dich nicht vom Fleck, okay?»
Es ist nicht okay, und Paul hat keine Ahnung, wovon Sheldon redet, aber mit seinem gehörnten Helm steht er in Habachtstellung da, während Sheldon in der Garage verschwindet.
Lange Zeit herrscht Stille. Paul schaut zum Fjord hinunter, wo wunderschöne Segelboote über die Oberfläche der kalten, salzigen See gleiten. Wo Möwen die Luft durchschneiden, hoch und frei am Morgenhimmel. Wo …
Ein donnerndes Gerumpel reißt den Jungen aus seinen Gedanken, und er weicht einen Schritt zurück.
Rauch dringt aus der offenen Tür. Die Fenster zittern, die Vögel fliegen auf. Aus der Dunkelheit taucht Sheldon Horowitz auf einem riesigen gelben Traktor thronend auf und zieht ein Schlauchboot auf einem zweirädrigen Anhänger mit der norwegischen Flagge am Heck hinter sich her.
«Flussratten!», ruft er laut und wedelt mit seiner Landkarte über dem Kopf. «Lasst die Reise beginnen!»
Rings um sie ist die Welt lebendig und in voller Blüte. Die Straße windet sich in sanften Kurven, und die Wildnis ist so nahe, dass man sie greifen kann. Birken und Fichten mischen sich mit Buchen und Kiefern. Vögel, die die langen Sommertage genießen, schmettern voll Leidenschaft ihre Lieder, die durchs schimmernde Blattwerk dringen, und flöten hoch auf den sanft schaukelnden Baumwipfeln.
Pauls gummibeschuhte Füße tapsen in dem Schlauchboot hin und her, während er seinen Kochlöffel vorbeifahrenden Autos hinterherschwenkt. Er benimmt sich fast wie ein normaler kleiner Junge.
Sheldon schaltet ungefähr ein Dutzend Mal in den falschen Gang, bis er – zumindest grob – heraushat, wie das Ding funktioniert. Irgendwann läuft es, er tuckert mit etwa zwanzig Kilometern pro Stunde dahin, immer schön geradeaus, und freut sich seines Lebens.
Er fährt hinaus auf den Husvikveien und dann auf die 153 , die anscheinend auch Osloveien heißt, wenn er die Landkarte richtig deutet. Seine
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