Ein seltsamer Ort zum Sterben
Schrank aus Massivzeder mit Spiegeltüren finden sie Männer- und Frauenkleidung für die Übergangszeit. Es sind Kleidungsstücke für Leute um die fünfzig. Konservative Leute. Die sich ein Haus am Oslofjord leisten können und sich nicht die Mühe machen, es auch zu bewohnen. Leute, denen es nichts ausmacht, ein wenig von ihrem Reichtum abzugeben, wie Sheldon findet.
«Ich behaupte nicht, dass wir hier Robin Hood spielen oder so. Und ich will das hier auch gar nicht schönreden. Wir klauen denen ihre Klamotten. Das Boot, das war nur so leihweise. Die Klamotten, die behalten wir. Was ich damit sagen will, ist, dass dieser Typ hier wahrscheinlich auch mit einem Tweedjackett weniger auskommt. Außerdem hinterlasse ich ihm ja eine wunderbare orangefarbene Jacke, um die einen jeder beneiden würde.»
Sheldon behält seine eigene Hose an, packt sich aber saubere Unterwäsche und Socken ein. Er nimmt auch ein gestärktes weißes Hemd, das so aussieht, als hätte es mindestens ein Jahrzehnt darauf gewartet, wieder Beachtung zu finden. Es ist natürlich zu groß für ihn, aber er stopft es einfach tief in die Hose und zurrt den Gürtel fest.
Überraschenderweise findet Sheldon auf der Seite der Frau ganz oben im Regal eine blonde Perücke. Während sein erster Gedanke sofort Sex und den allzu gegenwärtigen – und schmerzlich unerreichbaren – Phantasien des Verkleidens gilt, kommt ihm beim erneuten Betrachten des Tweedjacketts und der alten Hemden ein neuer Gedanke. Der weniger fröhlich ist.
«Krebs», sagt er. «Das erklärt wohl, weshalb niemand hierherkommt. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fand ich das Elchfleisch doch ziemlich zäh.»
Paul streckt die Hände nach der Perücke aus. Sheldon sieht sie an, dann den Jungen und reicht sie ihm. Paul berührt das blonde Haar und inspiziert vorsichtig die Locken. Er dreht sie um und sieht das Maschenwerk des künstlichen Skalps. Sheldon nimmt sie ihm sanft aus der Hand und setzt sie sich selbst auf.
Paul reißt die Augen auf. Er schaut ein bisschen, als ob ihm die Maskerade Spaß machen würde. Obwohl dies vielleicht auch nur die Wunschvorstellung eines alten Mannes ist, der so etwas glauben muss.
«Okay, jetzt bist du dran.»
Sheldon nimmt die Perücke ab und pflanzt sie auf Pauls Kopf. Er schließt die Schranktür und deutet auf den Paul im Spiegel.
Paul blickt ihn durch den Spiegel an.
«Huck Finn hat auch Frauenkleider angezogen, als er auf Jackson’s Island die Lage sondierte. Es gibt eine lange literarische Tradition von Jungs, die sich als Frauen verkleiden, wenn es mal nicht so rundläuft, also denk dir nichts dabei. Übrigens, wo ich dich so in dem langen weißen Hemd sehe, kommt mir eine Idee.»
Aus den Schrankfächern der Frau holt Sheldon einen dünnen braunen Ledergürtel und legt ihn Paul um die Taille.
«Wir brauchen eine Kopfbedeckung. Vielleicht eine Wollmütze oder so etwas. Oh! Das da. Da oben. Genau das Richtige.» Sheldon nimmt eine braune Mütze herunter und setzt sie auf Pauls perückenverziertes Haupt.
«Gut so, gut so, allmählich wird das ja! Du musst mir noch mal die Mütze geben. Jetzt brauche ich einen Kleiderbügel und etwas Alufolie. Zurück in die Küche.»
Ganz aufgekratzt vom Kaffee mit Zucker, läuft Sheldon in die Küche, reißt Schranktüren auf und schließt sie wieder. Wie durch göttliche Vorsehung fällt ihm aus einem der Fächer über dem Kühlschrank Alufolie entgegen. Sheldon greift summend nach einer Papierrolle und zupft und zerrt daran. Das Papier schlängelt sich zu einem Haufen zusammen. «Hilf mir!», sagt er zu Paul und reicht ihm einen Armvoll Papier.
Als hätte er auf seinen Einsatz gewartet, tritt Paul hinter Sheldon und zieht und zieht, als würde er ein riesiges Segel hissen. Erst als das ganze Papier abgerollt ist, gibt sich Sheldon zufrieden.
«So. Jetzt haben wir etwas, womit wir arbeiten können.»
Sheldon nimmt die Röhre aus festem Karton, den Drahtkleiderbügel und die Wollmütze und macht sich an die Arbeit. Der Küchentisch dient als Labor. Er schneidet die Pappröhre mit einem Steakmesser in der Mitte durch, dann macht er sich an den Kleiderbügel. Sheldon zuckt zusammen, als er den Stich der Arthritis in seinen Fingergelenken spürt, schafft es aber, den Bügel gerade zu biegen und dann zu einem riesigen, kurvenreichen «W» zu formen. Er zwinkert Paul zu, während er die Wollmütze erst auf der einen, dann auf der anderen Seite des Bügels einfädelt. Er zupft die Mütze zurecht, bis der
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