Ein seltsamer Ort zum Sterben
sieht er das nicht so. Vielleicht traut er uns nicht. Vielleicht hat er etwas gesehen, das ihn zu einer anderen Überzeugung kommen ließ. Ich weiß es nicht. Ich kann nur hoffen, dass er, wenn es ihm gelingt, uns zu entkommen, es auch schaffen wird, dem Tatverdächtigen und seinen Helfershelfern zu entkommen. Denn ich habe das Gefühl, dass der Vater seinen Jungen zurückhaben will.
«Sucht nach dem Boot», befiehlt Sigrid. «Weit können sie nicht gekommen sein.»
In der Åpent Bakeri, gegenüber vom Literaturhaus, spricht Kadri, den Mund voll Zimtschnecke, auf einen ehemaligen UÇK -Kumpan und einen jungen Rekruten ein, die beide kaum verstehen können, was er sagt.
Der eine zündet sich eine Zigarette an und kneift die Augen zusammen, damit er besser hören kann.
Kadri schluckt hinunter und sagt dann: «Mann, sind die köstlich!»
«Ich habe keinen Hunger», sagt der mit der Zigarette.
Kadri beißt erneut ab und sagt auf Albanisch: «Hungrig muss man dafür nicht sein.»
Der Zweite sagt: «Kadri, was sollen wir hier?»
Obwohl Enver ihn gebeten hat, das zu unterlassen, trägt Kadri goldene Ketten und hat ein schwarzes Hemd an, das einem Siebziger-Jahre-Disco-Devotionalien-Shop zu entstammen scheint. Kadris Handy liegt auf dem Tisch neben seinen Marlboros, er schlürft ein großes Glas Latte macchiato.
«Schmeckt euch nicht, Latte macchiato?», fragt er sie.
Sie schütteln den Kopf.
«Da rebelliert euer Bauch, oder was?»
Sie schütteln erneut den Kopf.
«Also, wir sind doch hier in Norwegen. Muss denn alles wie zu Hause sein? Dann geht nach Hause. Ihr wollt hier leben, dann nehmt euch doch auch das, was es hier so gibt. Hier haben sie Latte macchiato und Zimtschnecken, hübsche Mädels in Stiefeln mit Zottelfell und alte amerikanische Autos, mit denen sie im Sommer rumfahren. So schlecht ist das doch nicht!»
«Kadri, wir haben etwas zu erledigen. Können wir jetzt mal weitermachen?»
«Senka ist tot.»
«Wissen wir.»
«Der Junge ist verschwunden.»
Burim, der noch tiefer in seinem Sessel versunken ist als Gjon, sagt: «Wissen wir auch.»
«Enver sucht nach dem Jungen. Was bedeutet, dass ihr nach dem Jungen sucht.»
Burim zieht an seiner Zigarette. «Ich weiß nicht, wo der Junge ist.»
Kadri schluckt das weiche Innere der Zimtschnecke hinunter und sagt: «Die Mitte ist das Beste, ganz süß und klebrig. Ihr wisst nicht, was euch da entgeht. Ehrlich. Schau mal, du Vollidiot, wenn du wüsstest, wo er ist, würde ich zu dir sagen: ‹Hey, Vollidiot, wo ist der Junge?› Und du würdest sagen: ‹Oh, den habe ich hier in meiner Hosentasche, zusammen mit den Flusen und dem Kaugummi.› Aber du weißt es nicht, und ich weiß, dass du es nicht weißt, und deshalb sage ich, ihr werdet ihn suchen.»
Burim blickt finster drein. «Wenn Enver das Paar verfolgt, damit es ihn zu dem alten Mann bringt, und der Alte bei dem Jungen ist, was sollen wir da noch tun? Klingt so, als wäre die Sache erledigt.»
Kadri streckt den Zeigefinger in die Höhe und sagt: «Weil wir uns vielleicht täuschen. Vielleicht ist der Junge gar nicht bei dem alten Mann. Vielleicht hat der alte Mann gar nichts mit den Leuten zu tun, denen die Wohnung gehört. Vielleicht handelt es sich nur einen norwegischen Rentner, der auf der Straße stand und dem Auto nachsah, und den hat Enver eben gesehen. Vielleicht will der alte Mann das Paar gar nicht treffen. Vielleicht hat Senka den Kleinen irgendwo versteckt und hat uns an der Nase herumgeführt, indem sie in die andere Richtung rannte. Wir wissen es nicht. Wir sind …» – er steckt den Finger in den Mund, saugt daran und hält ihn dann feucht und glänzend in die leichte Brise – «… nur am Spekulieren.»
«Wenn nicht der alte Mann, wer dann?», sagt Gjon und nippt an einem stark gesüßten Espresso. «Der Junge ist ungefähr sieben. Der kann ja nicht allein bleiben. Vielleicht ist er bei der Polizei?»
Kadri wischt sich die Finger mit einer Serviette ab. «Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wenn sie eine Vermisstenanzeige in den Nachrichten bringen, weiß ich, dass noch Hoffnung ist.»
«Wer dann?»
Kadri sieht nicht auf. Er zuckt nur mit den Achseln und sagt beiläufig: «Vielleicht die Serben.»
Bei diesen Worten stöhnen Burim und Gjon leise auf und rutschen auf ihren Stühlen hin und her.
«Hört zu», sagt Kadri und leckt sich über die Lippen. «Senka war Serbin. Sie hat serbische Freunde. Sie wollte nicht, dass der Junge mit Enver in den Kosovo geht. Sie wusste,
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