Ein seltsamer Ort zum Sterben
Gefühl für die Räume zu bekommen, in denen diese kleine Familie zusammenlebte, von alltäglichen Dingen sprach, die kleinen Freuden des Alltags genoss.
In dem mittelgroßen Schlafzimmer steht in eine Ecke gequetscht ein schmales Doppelbett. Das Bett ist ungemacht. Das Zimmer ist zwar nicht aufgeräumt, wirkt aber sehr ordentlich. Rechts vom Flur ist eine kleine Einbauküche, die mit Sicherheit seit den siebziger Jahren dort steht. Die Schränke sind billig, und hinten ist ein kleiner Tisch für zwei Personen, an dem, wie Sigrid sich vorstellt, Mutter und Sohn zusammen aßen und der Kleine von der Schule erzählte. In der Spüle stehen Teller, der Tisch ist wackelig, aber die Tischplatte ist sauber.
Die zweite Tür rechts führt ins Wohnzimmer.
Ihre Mitarbeiter scheinen gute Arbeit geleistet zu haben. Sie kniet sich auf den Teppich, um zu überprüfen, ob da Fußabdrücke zu sehen sind, findet aber keine. Petter und die Jungs scheinen auch keinen Straßenschmutz eingeschleppt zu haben. Auf den Gegenständen rings im Raum kleben Nummern, alles sieht von den Fotos her vertraut aus.
Im Badezimmer stehen nur Utensilien für Frauen und Kinder. Die größeren Behälter – Shampoo, Schaumbad, Puder – sind eher Billigprodukte. Die kleineren sind hochwertige Pröbchen. In einem Korb finden sich zahlreiche Parfümproben, die aus Frauenmagazinen ausgerissen wurden.
Hinter der Toilette ist nur wenig Schmutz und Staub. Die Seifenschale ist nach dem letzten Gebrauch abgespült worden. Q-Tips in einem Plastikbehälter, dessen Deckel fehlt, eine Kinderzahnbürste in ziemlich neuem Zustand. Der Inhalt der Tube wurde immer schön von unten herausgedrückt.
In der Küche gibt es keine Süßigkeiten und nur eine Packung mit zuckrigen Cornflakes. Limonade gibt es auch nicht, aber ein paar Flaschen mit verschiedenen Fruchtsirups. Ein paar Nudeln und Tomatensoße. Im Eisfach liegen eine Packung Billigeis und ein Becher Häagen-Dazs Cookies & Cream.
Sigrid greift hinein und nimmt es heraus. Es ist beinahe voll. Eine erfahrene Hand hat fünf kleine Krater gegraben. Jemand, der dies wahnsinnig gern mag, es sich aber eigentlich nicht leisten kann und das Eis daher äußerst diszipliniert und heimlich nascht, während der Sohn das andere Eis isst.
Sie stellt den Becher wieder zurück.
Du warst eine gute Mutter, und du hast deinen Sohn geliebt. Daran besteht absolut kein Zweifel.
Sigrid zieht sich die Schuhe wieder an, schaltet das Licht aus und macht die Tür hinter sich zu – obwohl sie das Gefühl hat, etwas vergessen zu haben.
Die Treppe ist aus Holz. Die Kanten haben Hunderte von Leuten abgewetzt, die hier Tausende Male auf und ab gegangen sind, seit das Gebäude 1962 saniert wurde und die ehemaligen Genossenschaftswohnungen scheibchenweise verkauft wurden.
Sie geht über den Treppenabsatz und dann die Stufen hinunter, die zum Ort des Verbrechens führen. Die Namen «Rhea Horowitz» und «Lars Bjørnson» stehen auf einem schwarzen Plastikschild über der Türklingel.
Das Polizeisiegel ist aufgebrochen. Sigrid zieht die Hand zurück und starrt auf den Türgriff. Sie starrt eine ganze Weile darauf.
Die Tür hätte versiegelt sein müssen. Wenn einer ihrer Beamten die Wohnung noch einmal betreten hätte, wäre sie darüber informiert worden.
Hatte sie nicht einen Wachposten für den Eingang geordert? Unten in einem Mannschaftswagen sind einige Polizisten, die die Umgebung beobachten, aber niemand ist direkt an der Tür. Wäre keine schlechte Idee gewesen, denkt sie jetzt.
Es gibt einige plausible Erklärungen dafür, dass die Tür offen ist.
Vielleicht ist der alte Mann zurückgekommen. Es ist ja anzunehmen, dass er einen Schlüssel hat. Oder vielleicht ist die ganze Familie zurückgekehrt. Das hätten sie zwar nicht tun sollen, aber die Leute handeln nun mal impulsiv. Es ist verboten, einen Tatort zu betreten, aber das bedeutet nicht, dass es nicht geschieht. In Anbetracht dessen, was ihnen allen gerade passiert ist, wäre es verständlich und wohl auch verzeihlich. Oder es war jemand anders in der Wohnung.
Oder es ist gerade jemand in der Wohnung.
Sie schüttelt den Kopf. Sie weiß ganz genau, dass ihr Vater das hier nicht gutheißen würde. Nicht nur was sie tut, sondern auch die Logik hinter dem, was sie tut.
Möglicherweise ist ja auch der Vermieter gerade in der Wohnung, in Damenunterwäsche. Oder ein Junkie, der Schmuck klaut. Oder eine Bootsladung kürzlich gelandeter chinesischer Immigranten, die zu Hause
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