Ein seltsamer Ort zum Sterben
den Stellen, an denen jedes einzelne aufgenommen wurde, und vergleicht, was sie sieht, mit dem, was die Kamera erst gestern Nacht gesehen hat. Sie fragt sich, ob irgendetwas nicht an seinem Platz steht und was jemand hier wohl getan haben mag.
Sigrid geht ins Badezimmer und stöbert ein wenig herum. Hier finden sich teurere Kosmetika als in der Wohnung oben, feine Düfte, Badeschwämme. Im Schränkchen unter dem Waschbecken stößt sie auf Sexspielzeug, und sie klappt die Türchen respektvoll, wenn auch ein wenig neidisch, wieder zu.
Es gibt ein paar Romane von Leuten, deren Namen sie noch nie gehört hat: Philip Roth, James Salter, Mark Helprin, Richard Ford. Ein paar Ausgaben einer Zeitschrift namens
Paris Review
liegen auch herum.
Eigentlich nichts hier ist seltsam, aber es gibt viele Dinge, die sie nicht begreift. Diese drei Menschen haben sich eine Existenz zurechtgezimmert, die auf keinen der drei wirklich zugeschnitten ist.
Die Mühe und selbst das Ergebnis sind bewundernswert.
Im Spiegel über dem Waschbecken sieht sie den Duschvorhang. Er ist zugezogen.
Sie dreht sich um und zückt den Knüppel. Der Vorhang hat sich bewegt, seit sie hereingekommen ist.
Ihre Verstärkung sollte unterwegs sein. Das Polizeirevier ist nicht weit.
Sigrid nimmt die Taschenlampe aus dem Gürtel, und anstatt den Vorhang beiseitezuschieben, geht sie zurück zur Badezimmertür, schaltet das Licht aus und knipst dann die Taschenlampe an.
Kein Schatten hinter dem Vorhang. Niemand versteckt sich in der Dusche.
Sie schaltet das Licht wieder ein, hebt den Duschvorhang an, nur um ganz sicher zu sein, und verlässt dann das Badezimmer, wobei sie das Licht hinter sich wieder löscht.
Ihre Leute haben darauf geachtet, das Wohnzimmer in seinem Zustand zu belassen. Überall finden sich Spuren des Kampfes. Die Bruchstücke zerbrechlicher Objekte häufen sich in unmittelbarer Nähe der Stelle, an der sich der Mord ereignete. Während ihrer letzten Augenblicke lag die Frau rücklings auf dem Couchtisch vor dem Sofa, um Luft ringend, ein Messer in der Brust. Ihr Blut tropfte an den Seiten herab und besudelte die weißen Dielenbretter.
Er hat sie im Klemmgriff gehalten. Sobald sie auf dem Rücken lag, presste er sie mit dem Knie nieder. Sein Hass war persönlich motiviert und erbarmungslos.
Der Raum die Treppe runter ist kein Keller, sondern ein weiteres Zimmer der Wohnung. Der Grundriss des Gebäudes ist an den leicht abfallenden Baugrund angepasst.
Das Zimmer ist aufgeräumt, das Bett gemacht. Über einem roten Sessel liegen ein schwarzer Anzug, ein weißes Hemd und eine graue Krawatte, als warteten sie darauf, von einem Trauernden angelegt zu werden. Sie zieht die Schubladen der hölzernen Kommode auf. Ein paar Pullover und Hosen, Unterwäsche.
Auf dem Nachttisch steht eine Lampe, daneben ein kleiner antiker Klappbilderrahmen aus Silber mit winzigen Scharnieren in der Mitte. Im linken Teil befindet sich ein vielleicht vor fünfzig Jahren aufgenommenes Schwarzweißfoto, das eine Frau fast in Sigrids Alter zeigt. Sie hat schwarzes Haar und die Art von Augen, die Frauen in den 1950 ern hatten. Sie ist zierlich und sitzt auf einer Steinmauer, ein Bein angewinkelt. Ein weißer Sneaker ruht auf einer Parkbank unterhalb der Mauer, und sie lacht. Es könnte Herbst sein. Wahrscheinlich ist es seine Frau – die, die drüben in Amerika gestorben ist vor seinem Umzug hierher.
Rechts ist ein junger Mann zu sehen, vielleicht noch im Teenageralter. Er ist schlank und hat dieselben Augen wie die Frau. Eine Farbfotografie, leicht unscharf. Vielleicht wurde sie in Eile oder mit einer billigen Kamera aufgenommen, einer Polaroid oder sogar einer alten Minox. Er steht mit überkreuzten Armen und Beinen gegen einen babyblauen Ford Mustang gelehnt. Er lächelt, als hätte er ihn selbst entworfen und gebaut.
Der einzige andere Gegenstand auf dem Nachttisch ist ein Stück Stoff, das sorgfältig neben den Fotos am Fuß der Lampe drapiert ist. Es ist olivgrün mit einem dünnen roten Rand und sieht abgetragen aus. Es ist das Motto des U.S. Marine Corps.
Semper Fidelis.
Immer treu.
«Wo zum Teufel sind Sie hin, Mr. Horowitz?», sagt Sigrid laut zu sich selbst. «Warum sind Sie verschwunden, und was treiben Sie gerade?»
Sie will Sheldons Raum schon verlassen, geht aber noch einmal in die Knie und schaut unters Bett. Und entdeckt zum ersten Mal, seit sie hier ist, etwas, das hier nicht hinzugehören scheint.
Ein großes rosafarbenes Schmuckkästchen mit
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