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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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fast leeres Soft-Pack Marlboros aus seiner Innentasche. Er schlägt es gegen das unterste Fingerglied seines Zeigefingers, damit eine Zigarette herausrutscht.
    Amerikanische Soldaten, hat er gesehen, klopften den Tabak immer fest. Sie nahmen eine Zigarette heraus und schlugen den Filter auf eine Tischplatte, einen Felsen oder den Helm eines Freundes, damit sich der Tabak sammelte und das weiße Zigarettenpapier einen schmalen Trichter am Ende bildete, der hell aufglühte, bevor die Soldaten den ersten Zug nahmen.
    Russische Soldaten taten genau das Gegenteil. Sie rollten die Zigaretten zwischen zwei Fingern und dem Daumen, bis sich die winzigen Blättchen voneinander lösten und zerkrümelten. Und immer formten sie eine Höhle mit der Hand zum Schutz für das Zündholz, damit die kostbare Flamme nicht erlosch, egal bei was für Wetter.
    Er reicht Enver eine, und der steckt sie sich zwischen die Lippen.
    «Zünd sie für mich an», sagt er.
    Enver hält das Bowiemesser in der rechten Hand.
    Gjon steckt die eigene Klinge in den Gürtel und holt die Schachtel mit den schwedischen Zündhölzern aus der Tasche seiner Jeans.
    Er reibt ein Zündholz an der Seite des Päckchens entlang und hält sofort schützend die Hand darüber, wie ein Russe. Vorsichtig schirmt er die Flamme ab, als wäre es ein kleiner Vogel, den er gleich fliegen lassen will.
    «Halte es mal höher», sagt Enver.
    Gjon macht einen Schritt nach vorn und hebt die Hände näher an Envers Gesicht. So nah, dass sich die Flamme in Envers müden Augen spiegelt.
    Als Enver sich vorbeugt, um die Zigarette in Gjons zusammengelegte Hände zu stecken, bemerkt Burim, dass die Spitze des Bowiemessers auf Gjons Rumpf zeigt.
    Dann, als die Zigarette brennt, sieht er, dass die beiden Männer einander anblicken.
    Wie oft haben sie Gespräche darüber geführt, was sie
Heimat
nennen. Wie es dort riecht. Wie das Essen schmeckt. Was Männern dort wichtig ist, was für Frauen es dort gibt. Gespräche über die, die von ihnen gegangen sind, und das, was sie den Toten schuldig sind. Was ihnen die Serben angetan haben. Wenn weder die Erinnerungen noch die sogenannten Tatsachen real sind, dann sind es am Ende zumindest die Emotionen, und die speisen sich aus Erinnerungen, die dem Leben entrissen wurden.
    Er hatte sich die Geschichte seines Landes angeschaut, um herauszufinden, was Wirklichkeit und was Legende war. Er war mit Adrijana zusammen in die Bibliothek gegangen und hatte Stunden im Internet nach den Namen der Dörfer gesucht, über die er sie hatte reden hören. Bela Crkva. Meja. Velika Krusa. Djakovica. In jedem von ihnen hatte es ein serbisches Massaker gegeben. Doch Burim kennt keinen dieser Orte. Hat so etwas nie erlebt. Was er Enver im Besonderen und der Unabhängigkeit – und Würde – des Kosovo ganz allgemein schuldet, ist abstrakt, ist nicht zu greifen.
    Hier, auf dieser baumbestandenen Landstraße, zweitausend Kilometer von den leise geraunten Geschichten und den noch lauteren Momenten des Schweigens entfernt, beobachtet Burim diese beiden Männer, die einander ansehen – und zum ersten Mal erkennt er, wie nah der Tod wirklich ist. Was das ist, das Adrijana solche Angst macht. Was sie an seiner Kleidung riecht, wenn er nachts nach Hause kommt. Und was er mit ins Bett nimmt. Was ihnen da nachstellt, ist die Geschichte selbst.
    Enver zündet sich die Zigarette an und hebt dann den Kopf. Gjon öffnet die Hände und lässt das brennende Zündholz fallen. Es berührt kurz den Boden und verlöscht dann.
    Gjon schaut nicht zu dem Messer hinab. Er macht auch keinen Schritt zurück. Er fragt lediglich: «Und jetzt?»
    Enver zieht lange an seiner Zigarette und spürt, wie der Hunger nachlässt. Dann nickt er Gjon zu. «Gestern Nacht haben sie gemerkt, dass da etwas ist, aber sie haben mich nicht gesehen. Heute haben sie sich ausgeruht, und wir haben alle auf den alten Mann und den Jungen gewartet. Heute Nacht stürmen wir die Hütte.»

    Gestern Nacht hat Rhea lange, lange in den Wald gestarrt. Dann ging sie zum Waldsaum hinüber. Sie konnte Enver nicht sehen, der sie durchs Fernglas beobachtete, sie musterte, ihre schwarze Lederhose beäugte, die schwarzen Stiefel, die Lederjacke im Vintage-Look mit metallenen Reißverschlüssen, ihre hellblauen Augen und das sehr lange schwarze Haar.
    Der ihre Hüften begutachtete, als sie näher kam.
    Sie hielt genügend Sicherheitsabstand, ging aber doch nahe genug heran, um genauer sehen zu können, bückte sich dann und

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