Ein seltsamer Ort zum Sterben
Männer standen herum und rauchten. Es war insgesamt ziemlich ruhig.
Mario half Donny auf, und dann standen sie einander einen Moment lang Auge in Auge gegenüber und lächelten beide.
«Schön, dich zu sehen», sagte Mario.
«Werd mal nicht sentimental.»
«Wir sollten ein Foto machen.»
«Wovon?»
«Von uns.»
«Weshalb?»
«Wir sind Waffenbrüder! Wir machen ein Foto und zeigen es eines Tages unseren Söhnen, damit sie stolz auf uns sind.»
«Glaubst du, wir werden tatsächlich Mädchen kennenlernen?»
«Ich schon. Du … na ja, vielleicht eher eine hübsche Kuh. Oder eine Ente. Enten sind angeblich super im Bett.»
«Ach ja?»
«Definitiv», sagte Mario. «Und wenn du von ihnen genug hast, kannst du sie ja immer noch essen.»
«Wo ist die Kamera?»
Mario setzte den Rucksack ab und holte eine Leica III c heraus. Eine kleine Kamera aus rostfreiem Stahl mit schwarzer Sharkskin-Ummantelung. Er reichte sie Donny.
«Ich kann die nicht bedienen.»
Also brachte Mario Donny bei, wie man die Blende und den Blendenwert einstellte, den Weißabgleich durchführte und den Bildausschnitt wählte. Die ganze Zeit über hasteten amerikanische, kanadische und südkoreanische Soldaten vorüber, um die Überbleibsel der Schlacht an Strand und Wasser wegzuräumen. Sie zimmerten Versorgungsstände und schleiften schwere Teile über die Docks. Während die beiden jungen Männer über das intime Klicken und Klacken der Kamera sprachen, verwandelte sich Incheon hinter ihnen in eine nördliche Bastion gegen die kommunistischen Streitkräfte.
«Weißt du jetzt, wie’s geht?», fragte Mario.
«Denke schon.»
«Mach mal erst eins von mir.»
In der Ferne waren ein paar Gewehrschüsse zu hören – ein vager Eindruck, dass hinter den Hügeln die Kämpfe um die letzten Widerstandsnester weitergingen. Mario lief zurück zu seiner Position. Donny hatte klebrige Hände vom Salzwasser, und er wischte sich die sandigen Finger an seinem nassen Revers ab, damit Marios Kamera keinen Schaden nahm.
Als Donny den Apparat ans Auge setzte, wurde ihm klar, dass er noch nie durch eine Kamera geblickt hatte. Vielleicht hatte er mal vor langer, langer Zeit zum Spaß mit einer herumhantiert, aber bewusst durchgeblickt hatte er noch nie. Die Sucher, durch die er normalerweise schaute, waren das Zielfernrohr eines Gewehrs. Das erste Mal war es in New River, North Carolina, wo er mit den Marines in der Nähe von Camp Lejeune Schießübungen machte; es juckte ihn immer in den Fingern abzudrücken, doch dem durfte er, wie er lernte, nicht nachgeben.
Dadurch verrätst du deine Position und wirst getötet. Klar?
Seine Schützenklasse bestand aus fünfzehn Freiwilligen. Fünf Wochen lang übten sie Zielen. Sie lernten, wie man das Gelände erforscht, patrouilliert, Landkarten liest, sich tarnt und wie man mit einem Zielfernrohr arbeitet. Sie lernten, wie man absolut stillhält, wie man Irrläufer vermeidet, wie man die Balance hält, Impulse unterdrückt, atmet, sich kontrolliert. Man brachte ihm bei, wie er seinen Herzschlag verlangsamt.
Sie lernten die Reichweite, den Wind und das Licht einschätzen. Sie sprachen über Gewehre, Munition, Waffentechnik und über Mädchen. Sie diskutierten über Jazz und Automotoren. Zankten sich um Zigaretten. Sie lernten das Fluchen, wie man die ethnische und religiöse Zugehörigkeit des jeweils anderen diffamierte, und entwickelten ein hochspezialisiertes Vokabular, um bestimmte Typen zu beschreiben.
Snarf: Ein Junge, der an den Fahrradsätteln von Mädchen schnüffelt.
Twerp: Jemand, der sich falsche Zähne zwischen die Arschbacken klemmt.
Sie übten das Töten von Menschen, zur Vorbereitung auf den Augenblick, in dem sich ein solches Wissen als nützlich erweisen würde.
Für einen Scharfschützen ist der Zeigefinger ein Instrument des Todes. Aber mit dieser Leica III c hier sollte er nun auf Bitten seines Freundes stillhalten und das Gelernte dafür einsetzen, ein schönes Motiv in dem zu finden, was er sah, und kein Ziel. Seinen Finger zu benutzen, um den Augenblick unsterblich werden zu lassen, nicht um ihn zu zerstören. Um einen Moment zum Leben zu erwecken, nicht um sein Ende zu bewirken.
Als er nun, bloß wenige Stunden nachdem er Männer im Morgengrauen am Ufersaum getötet hatte, die Kamera in den Händen hielt, fühlte Donny sich verwandelt.
Er empfand Staunen, Demut und schlicht Vergnügen, während er die Linse einstellte, um ein Foto zu machen. Mario hatte sich einmal mit ihm über die
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