Ein seltsamer Ort zum Sterben
sammelte ein paar kleine Steine auf. Auch ein paar größere. Die warf sie in den Wald. Sie zielte nicht direkt auf ihn, sondern warf sie in hohem Bogen zwischen die Bäume.
Doch es geschah nichts. Kein Vogelschwarm flog auf. Kein Reh brach aus dem Dickicht. Kein hinkender Hund kam hervorgekrochen, der gestreichelt werden wollte. Nur Stille.
Rhea drehte sich zu Lars um, zuckte mit den Achseln und ging zurück zu ihm. Sanft schlug sie ihm ein paarmal mit der flachen Hand auf die Brust. «Danke, dass du es mit mir aushältst.»
Und dann, Lars hatte überhaupt nicht damit gerechnet, begann sie zu weinen. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann wischte sie die Tränen weg, lächelte, lachte ein wenig und schlug ihm wieder auf die Brust.
«Was für ein Tag!», sagte sie.
Schweigend machte er ihr eine Portion Pasta mit Tomatensoße aus dem Glas. Nach dem Essen half er ihr beim Ausziehen und zog ihr einen gestreiften Pyjama über. Er holte eine Steppdecke heraus und breitete sie über ihr aus, während sie sich in Embryoposition zusammenkauerte. Er steckte die Enden um sie fest, damit die kühle Nachtluft ihr nichts anhaben konnte, und streichelte ihr übers Haar. Er las ihr eine Kurzgeschichte aus einer alten Ausgabe des
New Yorker
vor. Dann öffnete er das Fenster einen Spaltbreit, damit frische Luft ins Zimmer drang, schaltete das Licht aus und ging hinüber ins Wohnzimmer, um aufzuräumen und ein paar Skizzen für ein neues Videospiel zu machen, an dem er gerade saß – eins, bei dem man in einem Hollywoodstudio mit einer riesigen Knarre Zombieversionen von Schauspielern und anderen Berühmtheiten wegputzt.
Am Morgen hatte Rhea oben ohne im Bett gelegen, die Decke weggestrampelt. Die Sonne hatte begonnen, die Hütte aufzuheizen. Lars stand nackt auf, um Kaffee auf dem Herd aus Gusseisen zuzubereiten. Es gab im Umkreis von etlichen Kilometern keine Nachbarn, also ging er nach draußen und mahlte die Bohnen auf der Türschwelle, während er in den Wald schaute.
Lars konnte sich gut vorstellen, weshalb Rhea sich gegruselt hatte. Der Weg zum Haus führt durch einen halben Kilometer Dickicht, das Rhea an das Waldstück erinnert, das Ichabod Crane auf der Flucht vor dem kopflosen Reiter durchbricht. Doch Lars ist hier aufgewachsen. Er kennt diese Bäume, die Tiere, die Geräusche, die sie machen, kennt ihren Tages- und ihren Nachtrhythmus. Sie verändern sich im Jahreslauf, und die Jahreszeiten kommen, eine nach der anderen, jede bringt einmalige Freuden und Herausforderungen. Die Dinge an sich sind nicht gruselig, denkt Lars. Dafür braucht es uns.
Sie verbringen den Tag in aller Ruhe. Lars besteht darauf.
Du hattest eine Fehlgeburt. Und am Tag darauf wurde unsere Nachbarin in unserer Wohnung ermordet. Und dein Vater ist verschwunden.
Es ist mein Großvater.
Er könnte auch dein Vater sein.
Gewissermaßen.
Es gibt nichts, was wir tun können, außer warten und uns ausruhen. Du musst wieder zu Kräften kommen. Dich sammeln. Wir können Scrabble auf Englisch spielen. Du kannst dir Worte ausdenken und mir weismachen, dass es sie wirklich gibt.
Warum geben die keine Vermisstenmeldung heraus? Warum ist sein Bild nicht überall in den Nachrichten?
Sigrid meinte, da ihr beide den gleichen Nachnamen habt und er an der Tür steht, könnte es sein, dass man die Killer auf seine Spur bringt, wenn man eine Vermisstenmeldung aufgibt. Vielleicht vermuten sie, dass er etwas gesehen hat. Und man würde sie darauf stoßen, dass er vielleicht einen kleinen Jungen bei sich hat. Wenn die Killer nach dem Jungen suchen und dann hören, dass Sheldon verschwunden ist, können sie schon denken, dass er nicht bei der Polizei ist.
Klingt alles etwas an den Haaren herbeigezogen.
Es ist wie beim Schach. Diese Beamtin … Sigrid. Sie ist vorsichtig.
Glaubt sie, wir sind in Gefahr?
Nein. Man scheint das Verbrechen nicht mit uns in Verbindung bringen zu können. Und es ist ausgeschlossen, dass die Mörder von diesem Haus hier wissen. Außerdem ist die Polizei in Kongsvinger darüber informiert, dass wir hier sind. Wir dürften also in Sicherheit sein.
Den ganzen Tag über warten sie auf einen Anruf und versuchen, sich zu entspannen.
Um sechs Uhr abends, als der Tag noch einladend und warm ist, betritt Enver Bardhosh Berisha zusammen mit Burim und Gjon das Haus durch die Vordertür und marschiert schnurstracks auf den Kühlschrank zu.
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TEIL III New River
15. Kapitel
In Sheldons Zimmer, weit weg in Oslo,
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