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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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hängt ein norwegisches Gedicht in englischer Übersetzung. Rhea hat es in einem Antiquariat in New York gefunden, die Kraft der Worte und der für die Entstehungszeit ungewöhnliche Gebrauch freier Verse hatten sie in Erstaunen versetzt. Sorgsam fotografierte sie es, rahmte den Ausdruck und schenkte ihn Lars zum Hochzeitstag.
    Es hängt über der Lampe auf Sheldons Nachttisch. Wenn er auf dem Bett sitzt und sein Blick auf die Fotos seiner verstorbenen Familie fällt, schaut er manchmal zur Seite. Und dann sieht er das Gedicht an der Wand.
    Es ist um 1912 entstanden und wurde von einem Professor der University of Minnesota ins Englische übersetzt. Die Universität publizierte es in einer eigenartigen Sammlung verschiedener Werke mit dem Titel
Poems of Modern Scandinavia
, sieben Jahre nachdem Norwegen seine Unabhängigkeit von Schweden erklärt hatte.
    Norwegen.
Eine Gabe
    an die wandernden Stämme, die immer weiter
    gen Norden drängten, zu donnernder Sturmmusik
    salziger Ufer und felsiger Erde,
    Heimstatt von Göttern, die längst vergessen.
    Wein verschüttend wie Kinder.
    Ein Echo in leeren Hallen,
    wartend auf Gäste, die niemals kommen,
    Feuer und Gesang steigen, ruhig und hell,
    zu ewig dunkler Nacht hinauf.
    Ein Chor von Kerzen und Düften.
    Wir … sagen sie. Kinder der Nordlande,
    unsere Väter ruhen hier in dieser Erde.
    Erinnerung, zu einer einzigen Geschichte verdichtet.
    Dies
… sagen sie.
    Dies ist unser Land.

    Und diese Welt umgibt ihn nun. Er hat sie noch nie mit eigenen Augen gesehen. Seit etlichen Stunden sind sie nun unterwegs. Vom Traktor aus hat er eine wunderbare Panoramaaussicht, und ihm kommen die Bilder in den Sinn, die das Gedicht in ihm ausgelöst hat. Er kann sich nicht an den exakten Wortlaut erinnern, aber er spürt die Stimmung der Verse. Jetzt, wo der Wind ihm ins Gesicht bläst, die Maschine unter ihm tuckert und er Paul auf dem Bootsanhänger hinter sich herzieht, kommt ihm das alles wieder in den Sinn. Dieses Land um ihn herum, das bislang so stumm gewesen ist, beginnt nun zu sprechen. Und allmählich wird ihm klar, dass auch Stille eine Art von Sprache ist. Es gibt noch etwas anderes außer Tod und Erinnerung. Mehr als die Stimmen der Verlorenen. Es liegt etwas in Europas Schweigen, das er bislang noch nicht wahrgenommen hat. Aber er wird wohl nicht mehr lange genug leben, um es ganz zu begreifen, weshalb er diese neue Einsicht so lose wie ein zufällig gefundenes Gedicht bei sich behält. Eins ohne Titel, ohne Autor, das einen tief berührt hat und das man seitdem nicht mehr wiederfinden kann.
    Dem Alter und der Schwerkraft trotzend, steht er hoch aufgerichtet auf dem fahrenden Traktor und lässt die Welt unter sich vorüberziehen. Er sieht die Bäume näher rücken, erst langsam, dann rauschen sie vorbei.
    Er fährt nach Husvikveien, dann nach Kirkeveien, schließlich nach Froensveien. Er biegt ab in Richtung Årungveien und Mosseveien und schließlich auf die Rv 23 und die E 18 , wo es nichts gibt außer ihnen und der sanften Landschaft, die sich wiegt wie die See und Sheldon so viel erzählt, dass er es nicht begreifen kann.
    Mario hatte gerade eine Binde um Sheldons Kopf gelegt, als er die Augen aufschlug.
    «Donny, bist du okay?»
    «Mir geht’s nicht so gut.»
    «Ein Sanitäter hat dir das Bein verbunden. Und einen Zettel auf dein Hemd gepinnt.»
    «Was steht drauf?»
    «Schusswunde, aber okay.»
    «Klare Ansage.»
    «Wie bist du hierhergekommen?», fragte Mario.
    Donny dachte darüber nach. Er war im Wasser getroffen worden, als er sich der Strandmauer näherte. Er schoss zurück. Dann verlor er das Bewusstsein. Nun hatte er Kopfschmerzen. Konnte eine Verwundung im Körper wandern?
    «Ich bin mit dem Boot gekommen.»
    «Was für ein Boot? Ein Panzerlandungsschiff? Ich hab dich nicht gesehen.»
    «Nein. Ein kleines Boot. Ein kleines Ruderboot. Ich habe es mir von den Aussies geborgt. Vermutlich wurde ich an Land gespült. Oder jemand hat mich gezogen. Wer weiß.»
    «Bist du deshalb so nass?»
    «Ja, Mario. Deshalb bin ich nass.»
    «Kannst du aufstehen?»
    «Ich denke schon.»
    Donny war nicht sicher, wie viel Uhr und wie lange es her war, seit die Truppen die drei Strände gesichert hatten. T- 34 -Panzer standen zur Formation aufgereiht da, reglos in den Sand geduckt, langsam abkühlend und hungrig. Eine MASH -Einheit war bereits unterwegs. Er sah den koreanischen Leuchtturm von Palmi-do vor sich aufragen. Es war Flut, und die Sonne schimmerte auf den Landungsbooten.

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