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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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einfach Zufall war oder eine Folge der Druckwelle, wird er nie erfahren. Jedenfalls führte sie dazu, dass Donnys Finger genau in dem Augenblick der Explosion abdrückte und etwas Entsetzliches für immer festhielt.
    1955 öffnete er Marios Kamera, nahm den Film heraus und entwickelte ihn. Es war das Jahr, in dem Sheldon mit seiner Leica zu einer Weltreise aufbrach. Es war nur ein Foto auf der Filmrolle. Es war kein Foto, das er jemals veröffentlicht hätte. Er zeigte es auch Mabel nie. Niemals deutete er an, dass es existierte oder erklärte, welche Macht es über ihn hatte – dass es bewirkt hatte, dass er nach Europa aufbrach, um die Hauptstädte zu besuchen und die Lager.
    Rhea weiß es nicht, aber das Foto ist hier in Norwegen. Es liegt oben auf seinem Schrank in einer dicken alten Aktenmappe aus Manilakarton, zusammen mit vierzig oder fünfzig weiteren, die niemand je zu Gesicht bekommen hat. Die meisten zeigen Saul als Baby, als Kleinkind und im Vorschulalter. Auf ein paar Fotos ist Mabel zu sehen.
    Eines aber, unter all den anderen, zeigt seinen alten Freund Mario, der in die Luft fliegt, seine Beine sind bereits vom Körper gerissen, in der Ecke ist ein weißer Leuchtturm, auf seinem Gesicht ist noch immer ein Lächeln.

16. Kapitel
    «Oh Mist», sagt Sheldon.
    Im linken Außenspiegel ist ein Polizeiwagen aufgetaucht, der harmloseste, den Sheldon je gesehen hat. Ein weißer Volvo Kombi mit je einem roten und einem blauen Streifen an der Seite. Er strahlt absolut nichts Unheilvolles aus. Er flößt so viel Respekt ein wie die Lehreraufsicht auf dem Pausenhof. Und doch sitzt ein Polizist mit einem Funkgerät drin.
    Sheldon wägt seine Möglichkeiten ab. Er kann dem Polizisten nicht davonfahren. Er kann sich nicht verstecken. Kämpfen ist weder praktikabel noch angemessen.
    Augenblicklich hört er die Stimme seines Ausbilders, der die unerschöpfliche Weisheit des United States Marine Corps vermittelte:
    Wenn du nur eine Möglichkeit hast, dann hast du bereits einen Plan!
    Die vermeintliche Bedrohung, die da aus dem Polizeiauto steigt, ist ein leicht übergewichtiger Herr Ende fünfzig mit einem freundlichen Gesicht und entspannter Körperhaltung. Er trägt keine Waffe und sieht auch nicht besonders alarmiert aus.
    Sheldon hört, wie der Mann etwas Nettes zu Paul sagt, aber aus dieser Perspektive ist es nicht möglich, Paul zu sehen oder seine Antwort zu hören. Wahrscheinlich hat er sich noch mehr in dem Boot verkrochen, ohne etwas zu erwidern.
    Sheldon holt tief Luft und wappnet sich für das Gespräch, als der Beamte seitlich neben seinem Traktor auftaucht.
    Der Polizist spricht Norwegisch.
    Sheldon nicht.
    Er entscheidet sich allerdings auch gegen Englisch.
    God ettermiddag
, sagt der Beamte höflich.
    Gutn tog!
, erwidert Sheldon voller Begeisterung auf Jiddisch.
    Er du fra Tyskland?
, fragt der Polizist.
    Jo! Dorem-mizrachdik
, sagt Sheldon und hofft, dass dies immer noch «Südosten» bedeutet wie vor fünfzig Jahren, als er den Ausdruck zuletzt verwendet hat, und dass «Tyskland» auch tatsächlich «Deutschland» auf Norwegisch heißt.
    Vil du snakke engelsk?
, fragt der Polizeibeamte, der offenbar des Deutschen nicht mächtig ist, oder jener Sprache, die Sheldon als Deutsch ausgibt.
    «I speak little English», sagt Sheldon und bemüht sich, nicht allzu sehr nach Wernher von Braun oder Henry Kissinger zu klingen.
    «Ah, good. I speak a little English, too», sagt der Beamte. Dann fährt er unwissentlich in dem fort, was Sheldons ureigene Sprache ist. «Ich hatte Sie für einen Amerikaner gehalten.»
    Amerikanisch?
, redet Sheldon in stark akzentgeprägtem, irgendwie jiddisch klingendem Englisch weiter. «No, no, German. Und Swiss. In Norwegen mit meinem Enkelsohn. Spricht nur Schweizerdeutsch. Dummer Bengel.»
    «Hat ja ein interessantes Outfit an», bemerkt der Polizeibeamte.
    «Wikinger. Mag Norwegen sehr.»
    «Verstehe», sagt der Beamte. «Aber ist ja seltsam, dass er einen großen Davidstern auf der Brust hat.»
    «Ach, das. Juden und Wikinger kamen bei ihm in der Schule gleichzeitig dran, warum auch immer. Jetzt will er beides sein. Ich bin sein Großvater. Wie kann ich da nein sagen? Letzte Woche: Grieche. Nächste Woche vielleicht: Samurai. Haben Sie Enkelkinder?»
    «Ich? Oh, ja. Sechs.»
    «Sechs. Das wird ja Weihnachten verdammt teuer!»
    «Da sagen Sie was! Die Mädchen wollen nur Sachen, die rosa sind, und nichts hat die passende Größe. Und wie viele Spielzeugautos kann man einem

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