Ein seltsamer Ort zum Sterben
hat.»
«Nein, Sheldon. Das weißt du nicht.»
«Woher weißt du bitte, was ich nicht weiß?»
«Vietnam ist nicht Korea.»
«Was ist daran nicht koreanisch?»
«Was ich sagen will, ist, dass du nicht behaupten kannst, du wüsstest, was er durchgemacht hat, nur weil er noch immer genauso aussieht wie immer, wenn er hereinkommt.»
«So hast du es aber bei mir gemacht.»
«Du warst ja nur in der Schreibstube.»
«Du weißt nicht, was ich im Krieg gemacht habe.»
Mabel schmiss die Sonntagsbeilage mitten auf den Boden des Wohnzimmers und erhob ihre Stimme.
«Na, was zum Teufel warst du denn dann? Heute mal dies, morgen dann das. Möchtest du meinen Respekt? Mein Mitgefühl? Möchtest du, dass ich verstehe, weshalb du nachts im Schlaf ‹Mario!› schreist? Dann erzähl es mir.»
«Ich habe getan, was man mir sagte. Mehr brauchst du nicht zu wissen.»
«Weil Männer nun mal so sind?»
«Du verstehst es ja doch nicht.»
«Ich geh jetzt schlafen.»
«Ich bleibe auf, bis er kommt.»
«Weshalb? Damit er aus dem Krieg heimkehrt und du ihn gleich mit ‹Du kommst aber spät!› begrüßen kannst?»
«Geh schlafen, Mabel.»
«Freust du dich nicht darauf, ihn zu sehen?»
«Ich weiß es nicht.»
Mabel war wütend und ging auf die Schlafzimmertür zu.
«Ich weiß überhaupt nicht, was das bedeutet, Sheldon. Wirklich nicht.»
«Ich auch nicht.»
Saul saß im letzten Zug der Linie 5 vom Union Square zur Beverly Avenue in Flatbush, Brooklyn, während seine Eltern sich stritten. Die ganze Fahrt über starrte er auf seine Hände.
Die Frau, die schließlich Rheas Mutter werden sollte, lebte im zweiten Stock ihres Elternhauses auf einem winzigen Grundstück, das so schmal war, dass die Bewohner in den Badezimmern der angrenzenden Gebäude sich, ohne aufzustehen, gegenseitig das Toilettenpapier hätten reichen können.
Sauls Klamotten waren ein wenig zu groß für ihn. Er hatte zwanzig Pfund verloren, dort am Fluss. Nun stand er vor dem dunklen Haus und blickte zum Fenster hinauf, wie damals als Teenager, als er sich Hoffnungen auf Sex machte. Sie hatten sich vor vier Jahren im Bus kennengelernt. Zwei unsichere, ungeschickte Heranwachsende, die sich weder richtig aufeinander einlassen noch sich loslassen konnten. Die Beziehung dauerte an, und sie waren unfähig, Nägel mit Köpfen zu machen oder einen Schlussstrich zu ziehen, weil das so ein
großer Schritt
war. Also blieben sie dabei. Sie betrogen einander und kehrten reumütig zurück. Dann ging er nach Vietnam.
Saul hob einen kleinen Kiesel auf und warf ihn gegen das Fenster. Es hätte ebenso gut eine Handgranate sein können. Dann hätte es eine Explosion im Fenster gegeben, und er wäre zum Boot zurückgekehrt. Aber es war keine Handgranate. Es war ein kleiner Kiesel.
Sofort öffnete sie das Fenster und schaute herunter.
Wahrscheinlich machen das alle Jungs so, dachte er.
Sie trug ein zerrissenes T-Shirt von einer Band, deren Name er noch nie gehört hatte, und das lose von ihrem Körper herabhing. Ihr Gesicht sah äußerst blass aus. Im Licht der Straßenlaterne konnte er die Konturen ihrer Brüste erkennen.
«Du bist also wieder da», sagte sie.
«Was auch immer das heißt.»
«Was willst du?»
«Dich sehen.»
«Mich bumsen, meinst du. Tapferer Soldat kehrt mit Riesenständer aus dem Krieg zurück. Richtig?»
«Baby, ich weiß erst, was ich will, wenn’s vorbei ist.»
Irgendwie entlockte ihr das ein Lächeln.
«Komm hintenrum rein.»
Genau das tat er.
Als er auf ihr lag und in ihr war und als seine Hände ihre Schenkel umfassten und er die Augen geschlossen hatte, hörte er sie sagen: «Wenn ich schwanger werde, ist es von dir, verstanden?»
In diesem Moment glaubte er, sie meinte, das Baby sei seins und nicht das von einem anderen. Dass sie in letzter Zeit mit keinem anderen Mann zusammen gewesen sei. Dass da noch etwas war zwischen ihnen. Dass die Vergangenheit auf sicherem Boden stand.
Ein paar Monate später, als das Baby größer wurde, war Saul schon tot. Er sollte nie wissen, dass sie nicht über die Vergangenheit gesprochen hatte. Sie hatte die Zukunft gemeint.
Der alte Uhrmacher saß in seinem Sessel im Wohnzimmer und schlief, als Saul am nächsten Morgen um halb acht hereinkam. Sie hatte ihn früh am Morgen vor die Tür gesetzt, damit ihre Eltern nicht erfuhren, dass er bei ihr gewesen war. Sie bestand darauf, dass sie, da sie Miete bezahlte, im oberen Stockwerk tun und lassen konnte, was sie wollte, doch ihr Vater bediente sich
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