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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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buddhistischen Familien, das passte für ihn nicht zusammen.
    Er versuchte, einen Abglanz von Vertrautheit in den Augen einer Frau – ein halbes Kind eigentlich – zu sehen, die einen Monat nach seiner Ankunft auf ihn geschossen hatte. Sie saß neben einer strohgedeckten Hütte in einem schlammigen Dorf auf dem Boden und sah ihn an, kurz bevor sie in einem Feuersturm aus dem Flammenwerfer, den der Mönch trug, bei lebendigem Leib verbrannte.
    Natürlich musste sich Saul bei ihm dafür bedanken. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch der Mönch wandte sich einfach ab.
    Er verstand – zumindest im Groben, mittels bruchstückhafter Informationen, die er sich aus Zeitungen, beim Militär, bei Ehemaligen, aus Gerüchten und der Wochenschau zusammengebastelt hatte –, worum es in diesem Krieg ging. Aber er hatte keine Ahnung, wie diese Leute tickten. Irgendwie war der Krieg das Ergebnis dessen, was alle hier taten, wenn sie morgens aufwachten. Doch was sie taten, schien verrückt zu sein, und so wurde der Krieg – so nannten sie das Theaterstück, in dem er mitspielte – zu etwas Abstraktem, zugleich aber um so lebendiger und konkreter.
    Unfähig, die großen Zusammenhänge zu verstehen, verlegte er sich auf die kleinen Handlungsstränge. Die Freundschaft zu einem Kumpel. Den Grund, weshalb der Colonel sich angeblich jede Nacht in den Schlaf heulte. Die Frage, was sein Vater von all dem wohl hielt.
    Auf dem Flug nach Hause stellte er sich verschiedene Gespräche vor, die er über diese Dinge mit seinem Vater führen würde, der Jahre in Korea bei den Marines verbracht hatte. Sie würden mehr Vater und Sohn sein, wenn er wieder zu Hause war. Sie waren jetzt beide Veteranen von Auslandskriegen: amerikanische Kriegshelden, die dabei gewesen waren – Jungen, die die Welt hinter dem Spiegel betreten hatten. Alte, universale Stammesgesetze hatten sie verändert und erlaubten ihnen, auf neue Weise zu reden, sie verliehen ihnen eine Autorität, die denjenigen verwehrt blieb, die die Feuertaufe durch den Krieg nicht erfahren hatten.
    Mit der Zeit hatte Saul gelernt, die Leute, denen er in Vietnam begegnete, einzuschätzen und sie in Kategorien einzuteilen. Die hier sind auf meiner Seite. Und die hier nicht. Mit denen kann ich vernünftig reden. Und mit denen nicht. Schließlich ergab sich eine Kategorie, in die er sich selbst packen konnte. Es war ein Kistchen, das sein Vater gebastelt hatte, und außen stand
Patriotischer Jude
drauf. Es lag jedoch ein Haufen Zeugs drin, an das keiner von beiden je gedacht hätte. Sheldon hatte es mit Ideen aus einem vergangenen Krieg und einer vergangenen Epoche gefüllt. Saul füllte es mit seinen Eindrücken und Albträumen.
    Saul hatte nur eine Nacht in San Francisco verbracht, bevor er nach Osten weiterflog. Er ließ sich im Taxi zu einem billigen Motel in der Nähe des Flughafens fahren und schaute den ganzen Abend fern, während er Cola und Fanta aus der Minibar trank. Zwischen acht und elf schaute er
All in the Family
, die zweite Hälfte von
Notruf California
,
Oh Mary
und
The Bob Newhart Show
und schlief dann irgendwann während
Kobra, übernehmen Sie
ein. Er hatte mehrere Zeitzonen durchquert und erst zum zweiten Mal in seinem Leben einen Jetlag. Er schlief ein, ohne sich die Schuhe auszuziehen. Der Dreck aus Vietnam beschmutzte die Motelbettdecke.
    Am nächsten Tag wurde er bei einem überraschend kurzen Besuch der Basis in Ehren entlassen, und ehe er sichs versah, war er wieder Zivilist, hatte nichts zu tun, war niemandem mehr Rechenschaft schuldig und saß in einem Flugzeug nach New York.
    Als er an der Tür zur Wohnung seiner Eltern in Gramercy ankam, stand die Sonne hoch am Himmel, und die Stadt roch gut. Er schaute auf das Klingelschild, auf dem der Name seiner Eltern stand – der ja auch seiner war, was er kurz vergessen hatte –, und überlegte, ob er auf den Klingelknopf drücken sollte.
    Ohne zu wissen, weshalb, oder den Impuls zu hinterfragen, wandte er sich um und ging weg.
    «Er sollte eigentlich langsam mal kommen», hatte Sheldon zu Mabel gesagt, die mit überkreuzten Beinen auf einer Couch saß und die Sonntagsbeilage der
New York Times
las. Es war bereits sehr spät.
    «Wir haben keine Zeit ausgemacht.»
    «Wir haben den Tag festgelegt. Meiner perfekt in Schuss gehaltenen Armbanduhr zufolge ist dieser Tag in weniger als einer Stunde vorüber. Er ist definitiv zu spät dran!»
    «Er hat eine Menge durchgemacht.»
    «Ich weiß, was er durchgemacht

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