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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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Wandlung in der Kirche unterhalten, wenn Oblate und Wein sich in den Leib und das Blut Christi verwandeln. Bis zu diesem Augenblick, in dem er die Kamera in Händen hielt, hatte er sich immer über Mario lustig gemacht, weil er es so absurd fand. Jetzt, als er auf die Trommel des Objektivs blickte, glaubte er plötzlich, dass so etwas doch möglich sein könnte.
    Er lächelte Mario zu. «Lass uns ein richtig gutes machen!», rief er.
    Dort, in der linken oberen Ecke dessen, was am Ende eine Schwarzweißfotografie sein würde, stand der Leuchtturm. Mario befand sich ein kleines Stück rechts unterhalb. Das Ufer und die dunkle See waren links, und ganz rechts kamen die Dünen, die sich bis zu jener Erhebung erstreckten, auf der Palmi-do lag. Alles passte, nur Marios Füße waren abgeschnitten, wodurch die Bildkomposition unvollkommen wirkte.
    «Geh mal ein paar Schritte zurück», sagte Donny. «Ich will nicht, dass deine Füße abgeschnitten werden.»
    Mario dachte keinen Moment darüber nach. Er zögerte nicht und wandte auch nicht ein, dass Sheldon ebenso gut selbst einen Schritt zurück machen könnte. Warum sollte er auch? Mario war ein gutherziger, freundlicher Mensch, der seine Freundschaft mit Donny nicht als Konkurrenzkampf ansah. Er war ein italienischer Junge an einer fremden Küste nach einer siegreichen Schlacht mit wenigen Toten, und hier hielt sein verloren geglaubter Freund seine noch intakte Lieblingskamera in Händen, um den Augenblick festzuhalten.
    Sechzig Jahre lang wird Sheldon sich immer wieder dieselbe Frage stellen. Er wird es tun, während er Uhren repariert, während seiner Ausflüge in der Abenddämmerung mit der Flusspatrouille nach Sauls Tod. Er wird sie sich stellen, wenn Mabel sich im Restaurant die Nase pudern geht und er mit dem Besteck spielt. Es ist eine Frage, die er erst in diesem Augenblick beantworten kann, hier in Norwegen, als lang verborgene Erinnerungen an die Oberfläche kommen und ihren Charakter verändern. Erinnerungen, die aus geheimen Orten in einem Dielenschrank auftauchen und darauf drängen, ans Licht gebracht zu werden. Und all dies erinnert ihn daran, dass er sich all dem bald wird stellen müssen.
    Die Frage, die er sich stellen wird, ist, warum er Mario aufgefordert hat, ein paar Schritte rückwärtszugehen, anstatt dies selbst zu tun.
    Jemand musste ein Stück zurückgehen. Das war klar. Das Objektiv der Leica konnte nicht zoomen. 1950 gab es keine Teleobjektive. Er konnte nicht im Handumdrehen die Welt näher heranholen oder weiter wegrücken. Damals war die Beziehung, in der man zur Welt stand, genau festgelegt. Sie ließ sich so, wie sie eben war, durch ein 50 -mm-Objektiv betrachten. Damals hielten wir fest, was wir soeben erfahren hatten. Wir standen der Gegenwart einen Schritt näher als heute.
    Dieser Jemand musste jedoch nicht unbedingt Mario sein. Donny hätte ja selbst ein paar Schritte zurücktreten können. Wäre er derjenige gewesen, der den ersten Schritt tat, Mario wäre perfekt im Bild gewesen.
    Warum also bat er Mario, ein Stück nach hinten zu gehen, anstatt es selbst zu tun?
    Ich war verschwitzt, müde und gereizt und hatte eine Wunde am Bein, ich wollte mich nicht von der Stelle bewegen.
Das war eine der möglichen Antworten. Er versuchte es jahrelang damit, aber so richtig überzeugt war er nicht.
Irgendwie war ich immer der Ältere von uns beiden. Spielte immer den Klügeren. Vielleicht war es Teil unseres Spiels, dass er derjenige war, der sich bewegen musste, dass er immer meine Anweisungen befolgte, anstatt dass ich ein Stück zurückgetreten wäre.
    All das stimmte. Aber nichts davon zählte. Vielleicht ließ es die Bitte verständlicher wirken, aber das war es nicht. Donny und Mario mussten sich gegenseitig nichts beweisen.
    Der Leuchtturm in Palmi-do war klein, gedrungen und zeichnete sich weiß vor dem grauen, bewölkten Himmel ab. Ruhig und fest ragte er vor den hin und her wuselnden Ausländern auf, die eine neue Welt um ihn herum erschufen. Unverrückbar stand er in einer Welt des Wandels da. Er beruhigte ihn. Er war … wunderschön.
    Donny wollte sich nicht vom Fleck rühren. Nichts sollte sich jemals ändern.
    Die Schönheit dieses unsterblichen Augenblicks, die Donny durchströmte, kostete Mario das Leben.
    Niemand weiß, worauf er trat. Wahrscheinlich Munition, die nicht explodiert war. Was immer es war, ein vorsichtiger Fußtritt genügte, und schon ging die Ladung hoch.
    Die Explosion schleuderte Mario in die Luft. Ob es

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