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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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einer Sprache aus einer anderen Zeit. Er sprach davon, dass immer noch er bestimme, was unter seinem Dach getrieben werde, dass sie der Familie Schande bereite und dass
das
nicht seine Tochter sei.
    Zum Zeitgeist von 1973 passte diese Sprache nun gar nicht, und so spielten sie das Spiel und redeten aneinander vorbei – und hofften, dass sie mit den Konsequenzen schon klarkämen. Mit der Schwangerschaft änderte sich das dann grundlegend. Nichts ließ sich mehr so einfach regeln. Hätte Rhea mehr von all dem gewusst, es hätte ihr möglicherweise geholfen zu verstehen, was sie selbst so umtrieb. Aber sie sollte es nie erfahren. Ihre Mutter, diese rätselhafte Frau, war für Saul immer eine Fremde geblieben und sollte es für Rhea bis zuletzt bleiben.
    Leise, um niemanden zu wecken, betrat Saul die Wohnung. Er trug seinen grünen Army-Seesack über der linken Schulter, während er – wie früher – den Schlüssel wieder herauszuziehen versuchte. Der Trick war, ihn im Uhrzeigersinn ein wenig nach rechts zu drehen und dabei leicht zu rütteln.
    Während er an dem Schloss hantierte, kroch ihm der Geruch des Hauses in die Nase, und ihm wurde plötzlich übel. Ein Gedanke, den er bislang noch nicht formuliert hatte, stürmte auf ihn ein, so heftig wie die Gerüche seiner Kindheit.
    Ich kann das jetzt nicht.
    Gerade als sein Verstand die Empfindung in Worte fasste, sagt sein Vater: «Willkommen zu Hause.»
    Saul zog den Schlüssel ab und schloss die Eingangstür. Er trat nach rechts und schaute ins Wohnzimmer, in dem sich absolut nichts geändert hatte, seit er es zum letzten Mal betreten hatte. Sein Vater trug unförmige farblose Kleidung, sein Gesicht wirkte abgespannt und müde.
    Saul setzte den Seesack neben dem Schirmständer ab und reckte die Schultern. Er holte tief Luft, sog die Vergangenheit in die Lungen ein, wo sie nicht hingehörte.
    «Danke.»
    Sein Vater stand nicht auf.
    «Du siehst okay aus», sagte er.
    «Hm, ja», sagte Saul. «Tu ich wohl.»
    «Hast du Hunger? Magst du einen Kaffee?»
    «Nein, ich glaube nicht.»
    «Du glaubst nicht oder nein?»
    «Was ist der Unterschied?»
    «Setz dich.» Sheldon deutete aufs Sofa, wo Mabel vorhin noch mit der Sonntagsbeilage gelegen hatte.
    Die Gelassenheit seines Vaters war beruhigend, es war, als würde er verstehen, was dort drüben passiert war. Saul selbst hatte nie genau verstanden, was sein Vater in Korea getan hatte. Er hatte ihn schon früher danach gefragt und immer nur die eine nicht sehr hilfreiche Antwort bekommen: «Ich habe getan, was man von mir verlangte.» Jetzt war es wichtig geworden herauszufinden, was sie gemeinsam hatten. Was sein Vater verstand. Was überhaupt verstanden werden konnte.
    «Wie geht es dir?», fragte Sheldon.
    Saul ließ sich in die voluminösen Kissen sinken und zuckte mit den Achseln.
    «Ich weiß es nicht. Ich bin noch nicht richtig angekommen.»
    Sheldon nickte.
    «Ich hab angefangen zu fotografieren, als ich wieder zu Hause war. Du wirst wohl auch irgendetwas tun müssen.»
    «Kann sein.»
    «Hast du dir da schon Gedanken gemacht?»
    «Nein, habe ich nicht.» Er machte eine Pause, dann fragte er: «Was denkst du darüber?»
    «Ich denke nicht darüber nach.»
    «Darüber kann man nicht nicht nachdenken, Dad. Ich habe Sachen gesehen. Ich hab Sachen getan. Das kann ich nicht so unter den Teppich kehren. Da muss ich mit klarkommen.»
    «Du hast getan, was du getan hast, und du hast gesehen, was du gesehen hast. Du hast deine Pflicht erfüllt. Du hast getan, was Männer eben tun. Und jetzt ist es vorbei. Versuch wieder ein normales Leben zu führen. Mehr musst du nicht tun.»
    «Ich weiß, wie es riecht, wenn Menschen verbrennen.»
    «Und jetzt ist es vorbei.»
    «Der Geruch hängt noch in meinen Klamotten.»
    «Dann wasch sie.»
    «Darum geht es nicht.»
    «Darum muss es aber gehen. Weißt du, was da draußen vor sich geht? Es gibt nicht viele von deiner Sorte. Du musst Vietnam hinter dir lassen und dich auf Amerika einlassen, du musst deine Rolle finden.»
    «Es gibt Zigtausende von meiner Sorte!»
    «Aber keine Juden.»
    «Verdammt, das ist doch vollkommen egal!»
    «Es ist das Einzige, worauf es ankommt. Wir haben wie die Irren im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Wir sind einander auf die Füße getreten vor der Rekrutierungsstelle. In Korea waren es schon weniger. Und heute? Jeder Jude ist auf dem College. Heute protestieren sie gegen den Krieg. Bürgerrechte, Rock ’n’ Roll und Haschisch. Anstatt unseren Beitrag zu

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