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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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gedacht hast. Ob es vielleicht dasselbe ist.»
    «Als ich aus Korea zurückkam, dachte ich über Korea nach. Als ich dann darüber nachdachte, dass ich über Korea nachdachte, stellte ich fest, dass das Zeitverschwendung ist. Also habe ich damit aufgehört.»
    «Wie lange hat das gedauert?»
    «Sei kein Weichei, Saul!»
    «Du hast dir eine Kamera geschnappt und bist nach Europa gegangen.»
    «Ja.»
    «Was hast du dort gefunden?»
    «Das war neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Du weißt, was ich dort gefunden habe.»
    «Du bist doch nicht extra dahin gefahren, um lustige Fotos von denen zu machen, oder?»
    «O doch! Und ich war gut darin.»
    «Du hast sie gehasst, oder? Jeden einzelnen Antisemiten, nicht wahr? Du hast in ihre Seelen geblickt, um dich selbst davon zu überzeugen. Um es zu dokumentieren, weil du sie nicht vor einen Gewehrlauf bekommen konntest, um sie zu erschießen.»
    «Woher hast du diesen Unsinn?»
    «Ich hatte Zeit zum Nachdenken auf dem Boot.»
    «Willst du wissen, was ich in Europa gefunden habe? Schweigen. Ein grässliches, entsetzliches Schweigen. Es war keine einzige jüdische Stimme übrig. Nur noch ein paar mickrige Kriegsneurotiker und Trittbrettfahrer, die übersehen worden waren. Und Europa schloss die Wunde einfach. Füllte das Schweigen mit den Vespas und VW s und Croissants, als wäre nichts geschehen. Dir ist nach Psychologie zumute? Okay. Wahrscheinlich haben sie sich saumäßig geärgert, als sie gemerkt haben, dass es mich noch gab. Dass sie von mir eine Reaktion bekamen.»
    «Und was hatte das mit Korea zu tun?»
    «Alles! Es machte mich stolz. Stolz darauf, Amerikaner zu sein. Es machte mich stolz, für mein Land gekämpft zu haben. Mir wurde dadurch klar, dass die Stämme Europas eben immer bloß Stämme bleiben werden. Nationen nennst du das? Nur zu. Aber es ist nichts als ein Haufen läppischer Stämme. Amerika ist kein Stamm. Es ist eine Idee! Und ich bin Teil dieser Idee. Und für dich gilt das auch. Wie es mir gegangen ist? Ich war stolz darauf, dass du für dein Land gekämpft hast. Dass du den Traum verteidigst. Mein Sohn verteidigt den Traum. Mein Sohn ist Amerikaner. Mein Sohn hat ein Gewehr in der Hand und stellt sich dem Feind. So ist es mir gegangen.»
    Saul antwortete nicht gleich. Sheldon schwieg ebenfalls.
    «Wo sind die Fotos?», fragte Saul schließlich.
    «Welche Fotos?»
    «Alle Fotos, die du geschossen hast.»
    «Die sind in dem Buch.»
    «Das sind bloß die, die du ausgewählt hast. Wo ist der Rest?»
    Saul bemerkte, dass sein Vater zögerte, bevor er antwortete, dass er eine winzig kleine Pause machte. Normalerweise kamen seine Erwiderungen wie aus der Pistole geschossen. Diesmal hatte Saul ihn überrumpelt.
    Ja, es gibt noch mehr Fotos. Fotos, die nie weit weg von mir sind.
    «Ich bin der Fotograf. Ich entscheide, was ein Bild ist und was nicht.»
    «Wenn es kein Bild ist, was ist es dann?»
    «Hast du auf dem Boot irgendwas gearbeitet?»
    «Ich möchte die anderen Fotos sehen.»
    «Nein.»
    «Vielleicht irgendwann einmal?»
    «Ich habe nie behauptet, dass es da noch mehr gibt.»
    «Hat Mom sie gesehen?»
    «Sie hat noch nicht lange genug in einem Boot gesessen, um solche Fragen auszubrüten.»
    «Was hat dich dazu gebracht, wieder zurückzukommen?»
    «Du warst es doch, der weg war. Warum stellst du mir all diese Fragen? Ich komm mir vor wie in der Dick Cavett Show!»
    «Du hast Tausende von Fotos in einem halben Dutzend Ländern gemacht. Dann, eines Tages, kommst du wieder nach Hause. Warum?»
    «Willst du wissen, warum?»
    «Ja, das will ich.»
    «Weil der Krieg vorbei war und weil alle tot waren. Ich konnte nicht zurück in den Krieg, und meine Freunde kamen nicht wieder. Also wurde ich erwachsen und schaute, dass es irgendwie weiterging.»
    «Welcher Krieg?»
    «Bitte, Saul, es reicht.»
    Saul versuchte, sich das Ungesagte vorzustellen, das sein Vater nicht nennen wollte oder konnte. «Sie kamen nicht aus Korea zurück», begann er. «Aber du meinst auch diejenigen, die 1941 in den Krieg gezogen sind. Die dich in Amerika zurückließen. Du hast das alles mitbekommen, damals, als Kind. Die älteren Brüder deiner Freunde. Dein Cousin Abe. Du warst der Jüngste, und du musstest zu Hause bleiben. Und deshalb hast du dich dann für den Koreakrieg gemeldet.»
    «Saul», sagte Sheldon etwas sanfter. «Ich bin nicht in den falschen Krieg gezogen. Sondern in den nächsten, und der war auch richtig. Die Kommunisten haben Millionen getötet. Millionen und

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