Ein sinnlicher Schuft
dass sie nicht viel Vorsprung hätte, wenn überhaupt, und dass es durchaus möglich war, dass er als Erster in London ankam. Ein Ritt auf einem schnellen Pferd ließ sich nicht mit einer Reise in der Kutsche vergleichen. Es sei denn, Pru und Melody drängten so sehr darauf, nach London zu kommen, dass Bailiwick sich entschlossen hatte, ebenfalls ohne Pause durchzufahren. Stark genug wäre dieser riesige Schimmel ja.
Angesichts all dieser Unwägbarkeiten konnte er es kaum erwarten, im Brown’s anzukommen, und jeder Aufenthalt war ihm zu viel, und sei es, dass er irgendwelche Fußgänger die Straße überqueren lassen oder vor einem vorübergehenden Passanten, der ihm bekannt vorkam, den Hut ziehen musste.
Und jetzt auch noch eine ganze Gruppe farbenfroh gekleideter junger Frauen, die kichernd mitten auf der Straße stehen blieben, um seine imposante Erscheinung zu begutachten. Und das, obwohl er und Hector vor Schmutz starrten, denn der Straßenstaub hatte in Verbindung mit einem heftigen Regenguss ganze Arbeit geleistet. Oder gafften die kichernden Weiber ihn bloß deshalb an, weil er so schlammverkrustet war?
Verärgert über den Aufenthalt schaute er sich in der Einkaufsstraße um und sah in der Nähe etwas funkeln. In der Auslage eines Juweliergeschäfts wurde ein Brillantring gerade von einem Sonnenstrahl getroffen und erregte so Colins Aufmerksamkeit. Er beschloss, ihn näher in Augenschein zu nehmen.
Es war ein hübsches Stück, wie sich herausstellte, das da auf einem ausgestopften Handschuh an prominenter Stelle präsentiert wurde, sicher das kostbarste der dargebotenen Preziosen. Der Diamant war zwar nicht übermäßig groß, aber von exzellentem Schliff. Auch die feine Goldarbeit fiel ins Auge, weil sie trotz ihrer Schlichtheit einen erlesenen Geschmack verriet. Zu beiden Seiten des Diamanten saßen jeweils drei Mondsteine, die mit ihrem weichen Schimmern ein Gegenstück zum Funkeln des Diamanten bildeten.
Mondsteine. Sie erinnerten Colin an Prus Augen im Schein des Feuers.
Ohne weiter nachzudenken, saß er ab, marschierte in den eleganten Salon des Juweliers und kaufte den Ring, ließ ihn gerade noch in ein hübsches Etui packen und eilte schon wieder davon. Draußen scharrte Hector bereits ungeduldig mit den Hufen, und lächelnd überlegte Colin, ob er wohl seinen nahen Stall witterte. In diesem Moment stieg ihm ein ganz anderer Duft in die Nase.
Rasch drehte er sich um und sah beim Laden neben dem Juwelier einen Blumenkasten unter dem Fenster, in dem neben rosa blühenden Blumen ein Busch mit scharf riechenden Blättern eingepflanzt war.
Minze.
Sie ist hier. Sie wartet auf dich.
Er nahm es als Zeichen und sprang eilig auf den Rücken des Wallachs, spornte ihn mit lauten Rufen an, sodass er im halsbrecherischen Tempo über das Pflaster stob.
Ich komme, meine geliebte Pru. Warte auf mich!
Als er endlich in der St. James Street eintraf, schwand seine hochgemute Stimmung, denn Bailiwick kam ihm entgegen, um Hector in seinen Stall zu führen.
Noch während er absaß, bestürmte er den Lakaien sogleich mit Fragen. »Bailiwick, sind Sie schon lange zurück? Ist sie sofort gegangen? Hat sie gesagt, wohin sie wollte?«
Jemand räusperte sich, und als er aufblickte, sah er Wilberforce oben an der Treppe stehen, die behandschuhten Hände auf dem Rücken und den Blick in die Ferne gerichtet.
»Sir Colin, Miss Melody benötigt Ihre Hilfe.«
O Gott! Melody musste untröstlich sein. Er marschierte die Treppe hinauf, entledigte sich dabei seines Hutes, der Handschuhe und des Reitmantels. »Ich hätte es ihr besser erklären müssen«, sagte er traurig zu Wilberforce. »Ich mache immer alles falsch.«
»Wie Sie meinen, Sir Colin. Wenn Sie nun bitte mitkommen würden– niemand scheint Miss Melody so beistehen zu können, wie sie es erwartet.«
»Gütiger Gott, nicht einmal Bailiwick?« Dann musste Melody wirklich zutiefst verstört sein.
Wilberforce zog bloß eine Augenbraue hoch. »So scheint es, Sir Colin.«
Voller Sorge wandte sich Colin in Richtung Treppe zu den Wohnungen. Er blieb stehen, als Wilberforce sich erneut räusperte und königlich den Kopf neigte. »Miss Melody befindet sich im Küchentrakt, Sir Colin.«
»Im Küchentrakt?« Colin wunderte sich, denn das nüchterne, rein zweckmäßige Ambiente dort schien ihm nicht gerade die Umgebung, wo ein kleines Mädchen Trost suchen würde. Trotzdem folgte er dem Majordomus. Er kannte die Räumlichkeiten, weil er anfangs, als niemand von
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